: Das Irrlicht auf den Worten
Gefühle spielen doch eine Rolle, und Autofahren kann man auch ohne Regeln: Die von ehemaligen Schülern, Kollegen und Weggefährten herausgebrachten Erinnerungen an Niklas Luhmann „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“
Er muss eine hochgradig irritierende Erscheinung gewesen sein. Allein seine dicke Brille, die die Augenpartie stark verkleinerte. Wer Niklas Luhmann in die Augen sah, gewann den Eindruck, der Blick des Soziologen entferne sich. Mehr noch: Man glaubte, dass man von Luhmann nur verkleinert wahrgenommen wurde. Und das hieß: In seinem distanzierten Blick musste man sehr klein aussehen.
Der 1998 verstorbene Bielefelder System- und Gesellschaftstheoretiker war eine Ausnahmeerscheinung. Einer jener von Emerson hymnisch beschriebenen Denktitanen, die alles umstürzen, was vor ihnen gedacht worden war. Luhmanns fröhliche Wissenschaft hat ihr anarchisches Potenzial noch längst nicht voll entfaltet. Wie ein Virus dringt sein Denken überall ein: in die Politik, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaft, Medien- und Literaturwissenschaft, nicht zuletzt in die Theologie. Wer seine Texte liest, lernt schnell diesen schrägen Blick auf die Welt genießen, der die alltäglichsten Dinge als Mysterien erkennbar macht. Lässt sich fesseln von einer virtuosen, ironischen Kunstsprache, deren Dichte und Abstraktionsniveau so hoch sind, dass sie, erstaunlich genug, in reine Sinnlichkeit umzuschlagen scheint.
Wer aber war Niklas Luhmann? War er wirklich der zynische Menschenfeind, der erzkonservative „Sozialtechnologe“, als der er seinen Gegnern gilt? Seine Person scheint ganz hinter seinem zigtausend Seiten umfassenden Werk zu verschwinden. Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie dieser Theoretiker aus Leidenschaft im privaten Gespräch, im Seminar oder auf Reisen war, kann dies den wohltuend behutsam formulierten Erinnerungen seiner Schüler, Kollegen und Weggefährten entnehmen. Sie präsentieren das Bild einer paradoxen Persönlichkeit: Privat ausgesprochen höflich und bescheiden, mit sphinxhaftem Lächeln, war er sich gleichzeitig seiner Größe wohl bewusst.
Während er in seinen Texten ganze Denktraditionen mit überlegener Geste in den Orkus der Geschichte warf, war der Soziologe privat eher sozial scheu.
Erhellende Anekdoten: Luhmann, der eine Kollegin, die ihm vorwirft, in seiner Theorie Gefühle zu wenig zu beachten, einfach in die Arme nimmt, küsst und sagt: „Gefühle spielen doch eine Rolle.“ Der an einer Kreuzung, bei der die Ampelanlage ausgefallen war, seinen Wagen irritiert anhält, dann mit einem „Ach, ich fahre einfach!“, ohne nach links oder rechts zu blicken, einfach über die Vorfahrtsstraße fährt. Der mit seinem „Erzfeind“ Habermas regelmäßig Tischtennis spielt.
Der Störenfriede im Seminar einfach reden ließ, weil ihn mehr interessierte, wie das „System Seminar“ selbst mit Störungen fertig wird. Aber vielleicht noch mehr als über Luhmann verraten die Texte etwas über die Erinnernden, über ihre Unterlegenheits- und Sympathiegefühle, über die Kränkungen, Eitelkeiten und Irritationen, die Luhmanns Person in ihnen auslöste.
Einmal wurde er gefragt, seit wann die „Kontingenz“, das Nicht-Notwendige, Zufällige, sein Denken beherrsche. Seine Antwort: „Unsere Gymnasialklasse ist 1945 noch zur Wehrmacht einberufen worden. Ich stand mit meinem Banknachbarn an einer Brücke, zwei Panzerfäuste in vier Händen. Dann macht es Zisch, ich drehte mich um – da war kein Freund und keine Leiche, da war nichts. Seitdem denke ich Kontingenz.“
„Im Begreifen des Todes tritt das Medium Sinn in Widerspruch zu sich selbst“, lehrte Niklas Luhmann. „Die hier gesammelten Erinnerungen“, schreiben die Herausgeber Theodor M. Bardmann und Dirk Baecker, „suchen in aller Vorläufigkeit und Vergeblichkeit jenes ‚Irrlicht auf den Worten‘, als das Luhmann das Bewusstsein beschrieben hat. Sie erwischen es nicht, und das erst gibt der Trauer ihren Raum.“
OLIVER PFOHLMANN
Theodor M. Bardmann, Dirk Baecker (Hg.): „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ – Erinnerungen an Niklas Luhmann. UVK, Konstanz 2000, 190 Seiten, 29,80 DM
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