: Wie ein Spielfilm, den sie im Kino gesehen hat
Mit 19 schoss Ayse auf ihren Schwager, der sie sieben Jahre lang vergewaltigt hatte. Sie kam ins Gefängnis, er nicht. Jetzt soll sie seine Behandlungskosten bezahlen ■ Von Elke Spanner
Ihren Mann, lacht Ayse*, hat sie im Internet kennengelernt. Beim Chatten. „Wo wohnst du, was machst du, was bist du denn für eine Ballerbraut?“, fragte er eines Tages, nachdem sie ihm geschrieben hatte, dass sie mal ihren Schwager niedergeschossen hatte und dafür im Gefängnis war. Im Februar trafen sie sich zum ersten Mal, und er blickte fragend auf die zierliche 21jährige, die ihm gegenübersaß. „Kannst du überhaupt eine Knarre halten?“ Am nächsten Abend, als er wieder zu Hause in Berlin war, rief er an und fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Und irgendwas in ihr, das sagte ja.
Die Männer, von denen Ayse spricht, haben keine Namen, nur Rollen. Mein Mann, mein Bruder, mein damaliger Freund, „er“. Ihr Mann hat ihr die Chance auf ein neues Leben geboten, und sie dankt es ihm, indem sie seinem Vater zuliebe ein Kopftuch trägt. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie sich eines Tages „zumachen“ würde, aber was sollte sie tun, ihr Schwiegervater bekam ihretwegen „die Krise“, und „manchmal muss man eben Opfer bringen“. Ihr Mann habe es nicht vor ihr verlangt, „du hast dich immer nur nach anderen richten müssen“, aber als sie dann das Kopftuch umband, hat er sie doch ganz lieb in die Arme geschlossen. Und trennen wollte sie sich nicht von ihm. Das wäre die Alternative gewesen.
Ayse sagt, sie sei „eingedeutschte Muslimin“. Gelebt hat die Türkin immer in Hamburg, Tuscheleien unter Freundinnen, heimliches Ausgehen am Wochenende, hier und da Schwärmereien für Jungs. Kommt sie von der Schule nach Hause, ist sie eingebunden in ihre Verwandschaft, die streng muslimisch ist. Dass ihre Familie gläubig ist, nutzt „er“ aus, ihr Schwager. Sie ist zwölf, als er sie das erste Mal vergewaltigt. „Sag es ruhig deinen Eltern“, höhnt er danach, „sag ihnen, was für eine Schande du für die Familie bist.“ Ayse hält den Mund, auch in den folgenden Jahren, in denen ihr Schwager sie immer wieder missbraucht. Irgendwann nimmt ihr Ekel überhand, doch da hat er schon Fotos von ihr, mit denen er sie erpresst. Er hätte sie in ihrer Tasche gefunden, wollte er ihren Eltern erzählen, und dass der männliche Körper auf dem Bild der ihres Freundes sei. Vor der Hochzeit mit einem Mann intim zu sein, wäre in den Augen ihrer Eltern eine Todsünde.
„Meine größte Angst war, dass niemand mir glaubt“, sagt Ayse heute. Und hätten die Eltern ihr die Vergewaltigungen geglaubt, wäre es auch keine Lösung gewesen. Die Mutter, sagt sie, hätte bestimmt einen Herzinfarkt bekommen, der Bruder hätte Rambo gespielt und den Schwager umgebracht. Die Familie wäre jedenfalls daran zerbrochen, so war es zumindest nur sie allein.
Schließlich, 1998, ist Ayse 19 Jahre alt – ein Alter, in dem sie an Heirat denken muss. Sie hat einen Freund, eine große Liebe, und täglich rechnet sie mit dessen Antrag. Sie hofft darauf, und sie fürchtet sich davor. Denn auch er ist strenggläubiger Moslem, die Angst vor seiner Reaktion auf ihre Offenbarung ist groß. Den Druck des Schwagers im Nacken macht sie den Schritt und vertraut ihre Geschichte dem Freund an. Der ist fassungslos. Er bittet sich Bedenkzeit aus. Zwei Tage später macht er Schluss. Eine Frau, die keine Jungfrau mehr ist, könne er nicht heiraten, teilt er Ayse mit.
„Mein Schwager hat mir meine Kindheit genommen, und jetzt nimmt er mir auch noch die Zukunft“, begründet sie später vor Gericht, warum sie loszog und sich eine Pistole besorgte. „Wunder dich nicht, ich bin im Gefängnis, weil ich auf ihn geschossen habe“, wird sie fünf Tage, nachdem ihr Freund sie verlassen hat, ihrer besten Freundin in einem Brief schreiben. Gut ging es ihr damals im Gefängnis, sehr gut, „ich war total erleichtert, wollte einfach in meiner Zelle sitzen und endlich meine Ruhe haben“.
Am Abend des 11. April 1998 geht Ayse zum Schein auf die Forderung des Schwagers ein, noch zwei Mal Sex mit ihm zu haben, dann endlich würde sie die Fotos bekommen. Draußen vor der Tür richtet sie die Pistole auf ihn. Er lacht. Sie drückt ab. Die Patrone klemmt. Sie gehen in die Wohnung, Ayse geht direkt ins Bad, wo sie die Patronen richtet. „Mein Tod soll von deinen Händen sein, meine Rose“, lacht er sie aus, als sie ihn auffordert, erneut mit ihm vor die Tür zu treten. Seelenruhig zieht er die Jacke an, zusammen gehen sie raus, sie schießt. Diesmal lässt die Pistole sie nicht im Stich.
Dass er überlebte, ist ihr egal. Lieber wäre ihr gewesen, er wäre tot, „ich wollte ihn erst unschädlich machen, die zweite Kugel unten hin, die dritte in die Stirn“, aber mit den Schüssen hatte sie ihren ganzen Hass herausgefeuert, und anschließend existierte der Mann für sie einfach nicht mehr. Damals, sagt sie, wollte sie Rache, ihm wehtun, ihn leiden sehen, „jetzt bin ich die Große“, dachte sie, als er blutend vor ihr zusammenbrach. Später wünschte sie sich, er würde ins Gefängnis kommen, lange Jahre, sie war schließlich auch fünf Monate in U-Haft, sie als langjähriges Opfer seiner Vergewaltigungen. 1998 bekam der Schwager für seine Taten zwei Jahre auf Bewährung.
Auch Ayse ist auf Bewährung frei. Sie habe in einem „aufgestauten Affekt“ gehandelt, befand im September 1998 das Hamburger Landgericht. Im Dezember läuft ihre Bewährungszeit aus. Sie weiß, dass einige aus ihrer Verwandschaft sehnsüchtig auf den Zeitpunkt warten. Denn wenn „ihm“ während ihrer Bewährungszeit etwas zustoßen würde, müsste sicher sie dafür büßen, sagt Ayse.
Viele haben angedroht, ihn umzubringen, ihr damaliger Freud, ihr Bruder, ihr heutiger Mann. Ayse hat selbst die Waffe in die Hand genommen, „ich habe sein Blut für meines genommen“, und dadurch hat sie ihre Familie hinter sich. Hätte sie ihn nur angezeigt – „pffh“. Nachdem sie geschossen hatte, zweifelte niemand an ihrer Geschichte, außer ihrer Schwester, „die nicht mehr meine Schwester ist“. Die Frau ihres Vergewaltigers, las Ayse eines Tages in deren Vernehmungsprotokoll, habe der Polizei gesagt, Ayse sollte „lebenslänglich bekommen, aufgehängt werden“, weil sie seinen Kindern den Vater nehmen wollte. „Geiler Vater“, spottet Ayse verächtlich.
Wäre die Schwester bei ihrem Mann geblieben, hätte sie sich nur für diesen und gegen Ayse entschieden – o.k., sie hätte damit leben können. Durch diesen Verrat aber ist sie voller Haß. Einmal nur ist sie ihrer Schwester seither begegnet. Sie sahen sich, als Ayse mit ihrer Mutter beim Einkaufen war. Die Schwester schrie über die Straße: „Du Schwein, du hast meine Familie zerstört.“ Ayse rief zurück: „Hast du Angst, keinen mehr abzubekommmen, so dass du bei ihm bleibst?“ Am liebsten, sagt sie, hätte sie auf ihre Schwester eingeschlagen. Ihre Mutter hielt sie zurück. „Ayse“, flehte sie, „du bist auf Bewährung“.
Seit ihrer Heirat lebt Ayse in Berlin. Sie sitzt in irgendeinem Straßencafé irgendwo in dieser Stadt und spricht über Vergewaltigung, Schusswaffen und Knast wie andere ihres Alters über kleine Schwärmereien oder eine gerade begonnene Ausbildung. Spricht sie über ihr Leben, hat sie das Gefühl, einen Spielfilm nachzuerzählen, den sie im Kino gesehen hat. Mit einer Handlung, die im Rückblick so folgerichtig, fast zwingend erscheint. Bereut hat Ayse ihre Tat nie, nicht eine Sekunde lang. Auch dem Haftrichter sagte sie bei ihrer Festnahme, sie würde es wieder tun – worauf der sie umgehend ins Gefängnis schickte. Denn sie weiß, sie war das Opfer, er der Täter, jahrelang.
Heute weiß sie aber auch, „dass Vergewaltigte in der Gesellschaft Täter sind“. Ihr muslimischer Freund hat sie deshalb verlassen, „wegen einem Stückchen Haut“, wie ihr jetziger Mann verächtlich sagt. Sie war fünf Monate in Haft, der Schwager nicht einen Tag. Und jetzt hat seine Krankenkasse von ihr die Behandlungskosten eingeklagt, 53.000 Mark soll sie zahlen, „die haben ihm wohl Gold implantiert“, spottet sie.
Das Zivilgericht hatte zwar anerkannt, dass der Schwager wegen des langjährigen Missbrauchs eine Mitschuld an seinen Verletzungen trägt, und den Anspruch zumindest von ursprünglich 90.000 auf 53.000 Mark abgesenkt. Es hatte aber auch gesagt, dass es nicht darum gehen könne, „eine Art Gesamtrechnung aufzumachen und die wechselseitig begangenen Straftaten gegeneinander abzuwägen“. Das, so das Gericht weiter, würde wohl dazu führen, „die über die Jahre bei der Beklagten (Ayse, d.R.) verursachten Schäden und den jahrelangen Missbrauch durch den Schwager als schwerwiegender anzusehen, als die einmalig verursachte Verletzung des Schwagers durch die Beklagte“. Jetzt bliebe Ayse nur noch, im Gegenzug Schmerzensgeld von ihrem Schwager einzuklagen. Das aber würde bedeuten, ein weiteres Mal im Detail über die Vergewaltigungen auszusagen, und dazu ist sie nicht bereit.
Auch privat spricht sie nur selten über ihre Vergangenheit. „Er“ existiert für sie einfach nicht mehr, „ich bin da wie ein kleines Kind, das sagt, ich will, dass es den nicht mehr gibt, und damit ist er weg.“ Ihr Mann fragt nie nach, „dem ist das egal“, lacht sie. Er wundert sich höchstens, dass sie überhaupt Intimitäten mit ihm mag. Nur die Forderung der Krankenkassehat ihre Vergangenheit nun Teil ihrer Gegenwart werden lassen. „Soll ich dem jetzt Geld geben und sagen, danke, dass du mich vergewaltigt hast?“ * Name geändert
Spendenkonto für Ayse: Rechtsanwälte Getzmann, Schaller, Pinar, Commerzbank 200 400 100, Anderkonto 611 40 11 80, Stichwort Prozesshilfe.
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