: Durchkommen in Mitte
Für Berlin hat zeitgenössische Kunst nur Eventcharakter, um Sammler und Museumsleiter während der Messe „art forum“ zu unterhalten. Wo die Solidarität fehlt, bleibt am Ende Picasso. Ein Rundgang
von HARALD FRICKE
Am Ende war es wieder Picasso. Mit etwa 130 Gemälden, Skizzen, Zeichnungen, Skulpturen aus sechs Jahrzehnten, auf denen man immer wieder das Motiv der Umarmung sieht, ist die untere Halle der Neuen Nationalgalerie in Berlin gut gefüllt. Meter für Meter, Schritt für Schritt: Liebende, Aktmodelle, Verführung und Leidenschaft. Ein bisschen derb manchmal, in grobschlächtigen, großen Gesten hingeworfen, und gerne auch makaber – unter dem Zeichen der „Sehnsucht“ sind Vergewaltigungsszenen ohne einen weiteren Kommentar ausgestellt. So sehen die Beziehungen zwischen Menschen beim erfolgreichsten Maler des 20. Jahrhunderts aus. Das muss als Erklärung für zerstückelte Frauenkörper genügen.
Die Besucher mögen es trotzdem. Vor allem wenn es die Kunst umsonst gibt. So wie letzten Dienstag. Da waren über 6.000 Menschen bei Picasso. Schließlich ist „Die Umarmung“ ein Geschenk, das das „Königreich Spanien“, wie es im Katalog so zärtlich staatstragend heißt, „der Bundesrepublik anlässlich des zehnten Jahrestages der Wiedervereinigung“ gemacht hat. Zunächst wollte man das Geschenk aber der Stadt Hannover machen, weil Spanien mit einem Pavillon auf der Expo 2000 zu Gast ist. Jetzt hat die Hannoveraner Kestner Gesellschaft allerdings eine Pressemitteilung verschickt, die erklärt, dass die Ausstellung dort aufgrund erwartbar niedriger Besucherzahlen und wegen des zu hohen Finanzrisikos abgesagt werden musste: Seit die Expo verbilligte Abendtickets ausgibt, kommt niemand mehr zu Besuch in die City.
Pech für Hannover, Glück für Berlin, besonders für Klaus-Peter Schuster. Sonst hätte der Generaldirektor der Museen Preußischer Kulturbesitz sich mit zwei Groß-Events begnügen müssen, die in der vergangenen Woche rund um die Messe „art forum“ veranstaltet worden sind. Zumal Schusters Interesse an diesen beiden Ausstellungen eher gering ist: Als die vier Kandidaten für den in diesem Jahr erstmals ausgeschriebenen „Preis der Nationalgalerie für junge Kunst“ auf der Pressekonferenz vorgestellt wurden, war er abwesend. Und für „After The Wall“, die ebenfalls im Hamburger Bahnhof eröffnete Übersichtsschau zur zeitgenössischen Kunst aus Ländern des früheren Ostblocks, musste sich die serbische Chef-Kuratorin Bojana Pejić als Partnerin von David Elliott ausgeben, weil Elliott das Moderna Musseet in Stockholm leitet, wo „After The Wall“ bereits vor einem Jahr zu sehen war (taz, 1. 11. 99). Hierzulande wollte offenbar niemand eine Frau als Hauptverantwortliche für ein solches, zehn Jahre nach Mauerfall sehr symbolisches Kunstereignis heranziehen.
Jetzt hat Berlin neben vier deutschen Kunstpreis-Hipstern und den weit über hundert „After The Wall“-Künstlern, die Postkommunismus vor allem als Kommerzialisierung und Gewalt wahrnehmen, auch noch etwas fürs Gemüt bekommen. Einen Klassiker wie Picasso, harmonisch und künstlerisch unbedenklich. Das passt ins Bild der neuen Mitte, die Konflikte in rotgrünem Führungsstil hin und her und zuletzt abmoderiert. Nur durfte es bei der Kunst bislang doch immer etwas rebellischer zugehen. Auch in Berlin, wo Anfang der Achtzigerjahre Punks und Hausbesetzer für Flexmaschinenperformances und Rabaukengesänge bis ins New Yorker Museum of Modern Art verschickt wurden. Heute wickeln junge Kulturmanager wie Klaus Biesenbach jede Widerständigkeit routiniert ab, heute nennt man den kulturellen Export ein wenig laufgittergeschützt „Children of Berlin“, und wenn Christoph Schlingensief in New York zum Happening mit angeklebten Schläfenlocken gegen die verschleppten Zwangsarbeiterentschädigungen protestiert, werden die Banker unter den Gästen flugs ans Büfett geführt. Man hat im Berliner Kulturbetrieb kooperieren gelernt, in Zeiten der Korporatisierung. So kann Christoph Stölzl als Kultursenator fast nebenbei verkünden, dass in Zukunft die Unterstützung der Off-Szene nach wirtschaftlicher Rentabilität bemessen werden soll. Für Ersatz ist gesorgt – notfalls mit Picasso.
Leider trifft die als Sparmaßnahme getarnte Ignoranz ziemlich gut die derzeitige Situation – Berührungsängste inklusive. Zwar reden sämtliche Beteiligten seltsamerweise immer weiter vom Boom der Kunst in Berlin, von unangepassten Künstlern, die in Clubs und billigen Ateliers herumexperimentieren. Aber ein Zusammenhang oder gar gesellschaftlicher Kontext, wie er so gerne den young british artists in England attestiert wird, scheint sich auch zehn Jahre nach Mauerfall nicht herauszubilden. Im Gegenteil, selten war die Entsolidarisierung unter Künstlern so groß wie jetzt. Wer vor drei Jahren noch in halblegalen Kneipen Techno mit Videoschnipseln zu sozialen Ambient-Pop-Tapes mixte, wird als versierter Club-Stratege vom Industrieverband des BDI gefördert. Auf der dazugehörigen Party feiern derweil die Modernisierungsgewinner ihren Bezug zum echten Leben der Boheme.
Im Museum, vor Mäzenen und Investoren verliert nun die einst selbst organisierte Befreiungsorgie noch mehr an Glaubwürdigkeit. Der Nationalgalerie-Preis scheint die trüben Freuden der Professionalisierung nur zu bestätigen: Dirk Skrebers melancholische Malerei vom Traum der Jugend wird baustellenmäßig in Spanholzkojen verfrachtet und sieht dort bloß lächerlich aufgeblasen aus. Katharina Grosse bekommt eine hochhaushohe Mauer in den Hamburger Bahnhof gezogen, auf der sie bis zur Unkenntlichkeit psychedelische Farben aus der Spraydose verteilen darf. Selbst Christian Jankowskis ironische Lobredenvideos für alle vier Kontrahenten scheinen plötzlich der banalen Logik des Wettbewerbs zu folgen. Und auch die von Olafur Eliasson für den 100.000 Mark schweren Talentschuppen liebevoll aus Schutt gemauerte Wand wirkt ein wenig deplatziert, wenn nebenan Charity-Dinner der oberen Zehntausend abgehalten werden. In London hatte sogar der Streit um Tracey Emins versiffte Betten-Skulptur beim letztjährigen Turner-Prize noch Charme, weil sich hier wirklich alle an ihrem Exhibitionismus reiben konnten. Während die Briten sich mit einigem Gespür für die Realität an sozialen Widersprüchen abarbeiten, wird in Berlin vertuscht, dass es überhaupt Verlierer gibt. Nur in der Innerlichkeit, im vagen Sind-wir-nicht-alle-auch-ein-bisschen-Anti-Berlin-Gefühl sind sich alle einig, irgendwie. Dabei würde die Stadt etwas weniger Romantik und mehr Gemeinsinn auch in der Kunst ganz gut vertragen.
Doch der Faden ist viel früher gerissen: Die von Klaus Biesenbach, dem Leiter der Kunst-Werke, vor zwei Jahren veranstaltete Berlin Biennale war als Widerspruch zum urbanen Schick gedacht und endete als modischer Laufsteg vor einem zahlenmäßig äußerst bescheidenen Publikum. Für den diesjährigen „Kunstherbst“ – auch so ein hauptstadtamtliches Label – hat man deshalb vorgebeugt. Aus Mexiko wurde Santiago Sierra eingeladen, ein 34-jähriger Aktivist, der in den Kunst-Werken sechs Asylbewerber in Pappkartons stecken darf. Vier Stunden täglich müssen sie in ihrem Verschlag hocken, als Zeichen der verlorenen Würde, die mit der Zwangsinternisierung von Flüchtlingen einhergeht. Nicht einmal bezahlt werden sie für ihre Qualen, weil man sonst gegen das Arbeitsverbot für Asylbewerber verstoßen würde – ein Abschiebungsgrund. Das klingt bestürzend unmenschlich, sieht aber in der weißen Kunsthalle in Mitte sehr nach einem zynischen Durchhalteritual aus, das Schlingensief bereits ähnlich tabulos in Wien zelebriert hat. Wem soll damit geholfen sein, wenn man Elend eins zu eins wiederholt? Das ist als künstlerisches Konzept etwa so durchdacht wie Kriegsspielzeug für Kinder in Bosnien oder im Kosovo. Als Beiprogramm zur Kunstmesse der letzten Woche war die Schmerzgrenze damit jedenfalls arg überschritten.
Tatsächlich kann man die groß angelegten Ausstellungen und Schock-Events genau darauf runterköcheln: Internationale Sammler waren zum Kunstkauf in der Stadt und wollten unterhalten werden. Zugeben mag das niemand, deshalb reden sich die meisten Institutionen ihren Hofknicks vor dem Kapital mit dem Hinweis schön, man hätte die Eröffnungen auch ohne Messe auf dieses eine Wochenende gelegt. Warum nur gab es dann während des „art forum“ VIP-Pässe, mit denen sich angereiste Sammler und Spitzenkuratoren per Privatchauffeur von einem Ausstellungsort zum nächsten kutschieren lassen konnten?
Statt voll auf Dienstleistung nach US-Prinzip zu setzen, hätte man von dem Geld mehr Kultur-Initiativen aus dem Ostblock einladen können, die noch nicht in der Marktwirtschaft angekommen sind. Eine solche Solidaritätsaktion hätte angesichts der „After The Wall“-Schau und dem offenbar willigen Bezug aufs historische Datum angenehm uneigennützig funktioniert. So aber waren von 159 Galerien gerade 5 russische Galerien und ganze 20 Künstler von „After The Wall“ auf der Messe vertreten. Diese schon wegen der geografischen Nähe notwendigen Kontakte werden in Berlin weiter zur Internationalität fehlen. Da hilft auch ein Messegespräch über die Verbindungen zwischen Los Angeles und der deutschen Hauptstadt nicht viel. Den entsprechenden Austausch pflegt ohnehin längst das Kunstmuseum Wolfsburg, mit Ausstellungen über 40 Jahre kalifornischer Kunst oder einer Retrospektive von Bruce Nauman. Die brauchen nicht einmal Picasso.
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