: Geschichte vom Hörensagen
Ungewöhnliche Stimmen an ausgesuchten Orten: Mit der Aktion „Hörstelle Berlin“ des Deutsches Technikmuseums werden die Passanten achtmal in die jüngere und jüngste Geschichte entführt, und bleiben doch ganz real in der Gegenwart stehen.
von SUSANNE AMANN und OLIVER VOSS
Potsdamer Platz
Der Wind treibt den Regen über den leeren Platz, einzelne Passanten drücken sich an den Häusern entlang. Kein Mensch bleibt stehen, als plötzlich Schüsse über den Platz peitschen – sie verhallen ungehört im Wind.
Dass das vor knapp 50 Jahren anders war, beweist ein weiterer Knopfdruck: „Lasst euch nicht zu Lumpen machen, lasst das Schießen sein!“, beschwört Willy Brandt die Polizisten auf der anderen Seite. Der Potsdamer Platz ist ein geschichtsträchtiger Ort, auch wenn er heute vielleicht nicht so wirkt. Er ist deshalb ein Standort des Projektes „Hörstelle Berlin“, das ausgewählte Tondokumente als „Zeitzeugen“ gebraucht und damit Geschichte fassbar machen will. An acht Orten kann man sich mit Hilfe eines gelben Schalltrichters auf die Suche nach Spuren aus dem letzten Jahrhundert machen. „Wir wollen die Leute mit der speziellen Atmosphäre einfangen, die das Tondokument im Zusammenspiel mit dem realen Ort entwickelt“, erzählt der Projektleiter Joseph Hoppe. Dass das funktioniert, beweist ein Pärchen, das in der Abendkälte eng umschlungen stehen bleibt und sich alle acht Radiodokumente anhört.
Brandenburger Tor
Der Verkehr um einen herum tost. Trotzdem hört man den dringlichen Appell Reagans von 1987:„Open this gate, Mr. Gorbatschow!“ Kurz stellt man sich vor, wie der ehemalige US-Präsident hier an der Mauer stand, deren Verlauf man heute nur noch erahnen kann. Das Brandenburger Tor ist die vierte Hörstelle und umfasst mit seinen Tonaufnahmen von 1933 bis 1997 die längste Zeitspanne des gesamten Projekts. 1933 feiern zwei Reporter zusammen mit der SS und der SA die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, zwanzig Jahre später berichtet ein Rias-Reporter von den Demonstrationen zum 17. Juni und der späteren, endgültigen Schließung des Tors. Innerhalb weniger Minuten entsteht die Berliner Mauer und wird kurze Zeit später mit Hammer und Meißel wieder zerlegt. Man hat das Klopfen der Mauerspechte noch im Ohr, als die Jubler der Silvesternacht 1989/90 schon die Einheit beschwören. Die Geschichte rauscht, ähnlich dem Verkehr, in wenigen Minuten an einem vorbei.
Rathaus Schöneberg
Auch vor dem Schöneberger Rathaus befindet sich ein Laternenpfahl, an dem einer der gelben Tichter befestigt ist. Aus dem trompetenförmigen Gebilde schallen die Stimmen Willy Brandts oder John F. Kennedys über den Rathausplatz. „Isch bin ein Baliner“, auf Knopfdruck verkündet der amerikanische Ex-Präsident noch einmal den „stolzesten Satz, den man in der freien Welt sagen kann“. Die Töne sorgen für erstaunte Blicke. „Ick hab erstma jekiekt“, erzählt der Pförtner des Schöneberger Rathauses, der sich die Tondokumente aber noch nicht angehört hat: „Abends is det zu laut und morjens ooch.“
Alexanderplatz
„Das ist der Fernsehturm, schau, schau“, singt ein fröhlicher Kinderchor am Alexanderplatz, der ersten nummerischen Hörstelle. Sie gibt Gelegenheit, Walter Ulbrichts Ansprache zur Eröffnung des Fernsehturms zu lauschen oder Christa Wolfs Worten während der Großdemonstration vom 4. 11. 1989: „Jede Revolution befreit auch die Sprache“.
Die Reportage des Rundfunks der DDR zum Tode Stalins funktioniert nicht, einige der Tondokumente lassen sich nicht starten. Der erste Beitrag, der funktioniert, ist passenderweise eine Diskussion zwischen Bevölkerung und Funktionären über die Versorgungslage in der DDR. Zur Freude alter Stalinisten ist wenigstens die Schalttafel mit einem „Hammer und Sichel“-Graffiti verziert.
Schlossplatz
„Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als der Untergang der DDR beschlossen“, urteilte Gregor Gysi nach der Abstimmung der Volkskammer am 23. .8. 1990. Vorbei ist es mit „dieser revolutionären Tradition“, der „unser Palast der Republik für immer verpflichtet seinwird“, wie Erich Honecker am 23. 4. 1976 zur Eröffnung des DDR-Schlosses erklärt hatte. Die Infotafel verlegt das Ereignis allerdings sieben Jahre zurück: 23. 4. 1970 lautet die Angabe, der inzwischen bekannt gewordene Fehler soll korrigiert werden. Doch die deutsche Geschichte besteht sowieso nur aus „Fehlern und Brüchen“, meint zumindest Hermann Kaiser, der auf dem Weg zur Bibliothek interessiert unter dem Lautsprecher stehen bleibt. Der pensionierte Mediziner ist dennoch begeistert. „Man glaubt ja sonst gar nicht den zeitlichen Irrsinn.“
Bebelplatz
Ganz anderen Irrsinn verkündet die Stimme des Propagandaministers Joseph Goebbels vor der Humboldt-Universität. Die 1933 landesweit im Radio übertragene Bücherverbrennung als „Kampf gegen alles Undeutsche“ wird am Ort des damaligen Geschehens dokumentiert. Zwei junge Männer lauschen gebannt. „We don’t understand a word“, sagt Sean aus Seattle bedauernd. Seinem Londoner Freund John geht es ebenso, trotzdem finden sie die Reden „really interesting“. Für massive Belustigung sorgen die Worte eines sowjetischen Militärvertreters zur Wiedereröffnung der Universität, denn auch sie erkennen „it is a russian accent“. Überrascht zeigt sich auch Christian Meibrod: „Ich dachte das wär eine Bushaltestelle, wusste gar nicht, dass man hier Sachen von 33 hören kann“. Doch dem Architekturstudenten ist so viel Geschichte nicht genug. „Kann man denn auch den Führer selber hören?“, fragt der junge Mann und liefert möglicherweise einen Grund für das Fehlen des Gröfaz gleich hinterher: „Der hat doch genug geredet.“
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