: „Spontanfluchten“ von gefangenen Jugendlichen
■ Debatte über „Verwahrvollzug“ und Personaleinsparung in der Bremer Bürgerschaft
„Der Jugendstrafvollzug hat keine Lobby.“ Das sagte gestern in der Bürgerschaftsdebatte über die große Anfrage der Grünen zu den „Perspektiven des Jugendvollzugs“ ausgerechnet Justizsenator Henning Scherf. Er folgte in dieser Einschätzung der des SPD-Justizpolitikers Horst Isola. Beide lehnten damit die Bewertung des grünen Justizpolitikers Hermann Kuhn ab, der gesagt hatte: „Wir haben die Schmerzgrenze zum Verwahrvollzug bereits überschritten. Ein am gesetzlichen Erziehungsgedanken orientiertes Vollzugskonzept liegt nicht vor.“
Dagegen betonte Justizsenator Scherf, dass der Bremer Jugendvollzug „im Ländervergleich und angesichts Bremens gespannter Finanzlage gut dasteht“. Isola hatte zuvor zwar eingeräumt: „Es gibt Probleme – aber keine Überbelegung der Haftanstalt wie in anderen Bundesländern.“ Danach aber war er in einer wenig inspirierten Rede auf die konkrete Lage vor Ort kaum eingegangen. Stattdessen bemühte er die Vergangenheit: Vor Jahren habe es eine höhere Knast-Belegung gegeben. Und zum – von Betriebsrat und Anstaltsbeirat schon lange angemahnten – fehlenden Vollzugskonzept sagte er nur: „Das fordern wir auch, aber wir müssen erst die Ressourcen festlegen.“ Die Unternehmensberater von Roland Berger seien dabei. Dann vollzog Isola einen größtmöglichen Schwenk auf die gesamtdeutsche Lage und richtete – mit einer Verbeugung – an Scherf die Bitte, im Bundesrat aktiv zu werden: „Seit 23 Jahren gibt es kein Jugendvollzugsgesetz,.“
Als ernst zu nehmende Erwiderung auf die Kritik Kuhns war das dürftig. Der nämlich hatte seinen Vorwurf „Verwahrvollzug“ ausführlich untermauert: Für die gewachsene Zahl inhaftierter ausländischer Jugendlicher wurde der Deutschunterricht gestrichen – obwohl es darunter auch Analphabeten gebe. Auch wurde die Zahl der Mitarbeiter pro Vollzugsgruppe von neun auf sechs geschrumpft. Obendrein würden die zunehmend auffälligen und schwierigeren Jugendlichen immer häufiger und länger auf ihren Zellen eingeschlossen. Freizeitangebote außer Sport gebe es nicht, dafür aber halbierte Besuchszeiten von monatlich nur noch zwei Stunden, verwies er auch auf die Kritik des Anstaltsbeirats, die im Frühjahr heftige Angriffe seitens der Justizbehörde auf die ehrenamtlichen Beiräte ausgelöst hatte. Die „unterlegte Botschaft“ der Senatsantwort lese er so, als lohne sich für diese Klientel nicht mehr zu tun als das Mindestmaß, schloss Kuhn.
Viel Frust scheint auch die Leitung des Jugendvollzugs zu schieben, weil die Behörde plant, den 20-köpfigen offenen Jugendvollzug mit minimaler Auufsicht zum „Fuchsberg“ in Pavillons bei der JVA Oslebshausen zu verlegen. Die Einschätzung aus der Anstalt dazu klingt mehr als ironisch: „Es wäre auszuprobieren, ob die Jugendstrafgefangenen die Fähigkeit entwickeln, sich ohne die bisherige Beaufsichtigung gemeinschaftfähig zu verhalten“. Auch sei die Sicherung durch den relativ niedrigen Zaun dort mangelhaft: „Die Spontaneität der Jugendlichen könnte dazu führen, dass sie flüchten (...) oder sich abends absentieren. Es ist fraglich, wie viele –Spontanfluchten' von Anstaltsleitung oder Senatorischer Dienststelle zu verkraften wären.“ ede
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