Der Tempelberg ist ihr Leben

In Jerusalems Altstadt: Nur die Alten dürfen zum Beten in die Nähe der Al-Aksa-Moschee, die Jungen liefern sich Scharmützel mit der israelischen Polizei

„Wir sitzen auf unserem Land, und hier bleiben wir.“

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Ein lohnendes Geschäft machten die beiden arabischen Händlerinnen gleich hinter dem Damaskustor mit ihren frischen Weintrauben gestern kaum. Gewöhnlich ist gerade freitags besonders viel Betrieb in der Jerusalemer Altstadt. Doch die Israelis verhängten eine Ausreisesperre über die palästinensischen Gebiete. Um Unruhen zu verhindern, durften zudem Männer unter 45 nicht in die Nähe des Tempelberges. Abgesehen von ein paar Händlern, Journalisten und reichlich israelischen Polizisten blieb die Altstadt menschenleer.

Im Abstand von rund 100 Metern ist der Weg vom Damaskustor bis zum Tempelberg mit Polizeiposten gesichert. Grenzschützer sitzen auf den Dächern. Über der Stadt kreist ein Hubschrauber. Mittags drängeln sich die älteren Gläubigen durch die Reihen der israelischen Soldaten, die links und rechts des Zugangs zum Tempelberg postiert sind, zum Gebet. Nur 3.000 sind es an diesem Wochenende, ein Bruchteil derer, die gewöhnlich zum Beten kommen. Maher Munna (35) lebt in der Altstadt. Am letzten Kontrollpunkt vor dem Tempelberg wird er aufgehalten. „Ich komme jeden Freitag zum Gebet“, sagt er. „Dass ich nicht in die Moschee darf ist, als würde man mir die Luft nehmen.“ Natürlich verstehe er die Angst der Israelis. Jeder, der die Fernsehbilder vom Lynchmord am Vortag gesehen hat, werde damit rechnen, dass so etwas auch in Jerusalem passiert. Denkbar wäre es, meint Maher.

Die israelischen Soldaten werden strikter. Eine halbe Stunde später lassen sie kaum noch ältere Gläubige durch. An der Via Dolorosa legen die verärgerten Muslime spontan ihre Gebetsteppiche auf den Boden. Innerhalb von Sekunden sitzen über 50 Männer im Gebet beisammen, manche haben ihre Einkaufstüten neben sich liegen. Dann beginnt der Scheich, ein älterer Mann, der ein Kopftuch trägt, mit dem Gebet. „Allah hu akbar“, ruft er, „Gott ist groß.“ Sein Singsang tönt mal traurig mal wütend: eine Tirade gegen die Juden, die ihnen das Gebet auf dem Tempelberg verweigern und ihre Kinder töten.

Eine Gruppe junger Palästinenser beobachtet die Szene, wütend über das große Polizeiaufgebot. „Dagegen können wir nichts tun“, sagt Wael. „Unser Volk ist zu schwach.“ Wael unterhält ein Musikgeschäft in der Altstadt. Sein Laden ist seit Tagen geschlossen. Geld spiele für ihn keine Rolle. Jetzt ginge es um sein Land und um Al Aksa. „Wir wollen den Frieden nicht mehr“, sagt er. Mit Ehud Barak, der „unsere Kinder tötet“, seien Verhandlungen sinnlos. Die letzte Hoffnung setze er allein auf Allah. Er werde den Palästinensern ihr Land zurückbringen. Natürlich sei er bereit zu sterben, meint Wael, seine Freunde stimmen zu. „Wir glauben, dass ein Moslem, wenn er stirbt, ins Paradies kommt“, erklärt er. Dennoch erzürnt Wael das Gefühl, dass die Welt „palästinensisches Blut“ nicht so teuer schätze wie jüdisches. So seien die fast hundert toten Palästinenser während der Unruhen kaum kommentiert worden, während nach dem Tod der beiden Soldaten in Ramallah die internationalen Medien empört reagiert hätten. Dabei hätten die Israelis ihren Tod verdient, denn „sie planten einen Anschlag in Ramallah“.

Die Gerüchte verbreiten sich schnell unter den Palästinensern. In der Altstadt scheint schon jeder zu wissen, wer die Männer, die am Vortag so brutal ermordet wurden, in Wirklichkeit waren. Deshalb ist es auch legitim, sich über ihren Tod zu freuen und ihre Mörder als Helden zu feiern – auch wenn Jassir Arafat eine Untersuchung und Verhaftung angeordnet hat. Schließlich ginge es um den Tempelberg, und der müsse mit jedem Mittel verteidigt werden. „Al Aksa ist unser Leben“, meint Wael. Auch Arafat könne den Kampf, selbst wenn er wolle, jetzt nicht mehr aufhalten. „Das Volk wartet auf Aktionen der Hamas.“ Palästinenserpräsident Jassir Arafat hatte in den vergangenen Tagen die Tore seiner Gefängnisse für die islamischen Fundamentalisten geöffnet. In Israel wird seither mit neuen Terroraktionen auch im Kernland gerechnet.

In der Altstadt bleibt es ruhig. Nicht aber am Damaskustor. Hunderte junger Muslime waren von den israelischen Grenzpolizisten am Zugang zur Altstadt gehindert worden. Nach einem heftigen Wortwechsel gelingt es einer Gruppe von rund 50 Männern, die Reihe der Sicherheitskräfte zu durchdringen. Grenzpolizisten schlagen mit Holzstöcken auf sie ein und treiben sie auf die andere Straßenseite. Von dort aus fliegen die ersten Molotowcocktails, ein Grenzschützer wird verletzt. Die Israelis schießen, worauf sich die Gruppe verläuft. Die Polizisten jagen zunächst hinterher, geben die Verfolgung aber schnell auf. Auf dem gegenüberliegenden Parkplatz verstecken sich die jungen Palästinenser hinter den parkenden Autos und schleichen sich erneut an die Grenzpolizisten an. Ein Katz- und Mausspiel ohne weitere Eskalation – zu massiv ist das Sicherheitsaufgebot.

„Es sind mindestens dreimal so viele Soldaten wie gestern“, sagt Asmi (65). „Das kostet sie täglich Millionen. Das halten sie nicht lange durch.“ Obwohl Asmis Hemdenladen seit Tagen keinen Gewinn bringt, ist er zufrieden über den Mord an zwei Israelis in Ramallah. Die Bombardierungen der Israelis, die am Vortag verschiedene Städte aus der Luft angegriffen hatten, mache ihm keine Angst. „Sie hätten die ganze Stadt zerstören können und haben doch nur auf drei Häuser geschossen.“ Selbst wenn die Israelis ernst machten, würden die Araber den Tempelberg niemals aufgeben. „Die Verhandlungen führen zu nichts“, meint Asmi. Was dann? „Nichts. Wir sitzen auf unserem Land, und hier bleiben wir.“