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Das fremde Leid anerkennen!

Ein Friedensvertrag wäre schön – aber reine Diplomatie. Israelis und Palästinenser müssen sich akzeptieren lernen. Doch die Verständnisarbeit wurde zerstört

Ich muss zugeben – auf mich wurde nicht geschossen, mein Sohn wurde nicht entführt oder in der Armee verwundet. Nach mir wurde auch nicht mit Steinen geworfen – obwohl ich nach Palästina gereist bin. Ich wurde nicht körperlich verletzt – aber mein Herz blutet, weil wir nichts gegen die Gewalt tun können.

In den Medien höre ich stündlich die Rufe „Tod den Arabern!“, „Vernichtet die Juden!“ Ich höre, wie Kunden beim Friseur oder im Supermarkt sagen: „Man muss hart zu ihnen sein – das Einzige, was sie verstehen, ist Gewalt.“ Ich nehme an, bei einem Friseur in Gaza oder in einem Supermarkt in Bethlehem sagen die Palästinenser Ähnliches über uns.

Es gibt Situationen, in denen man sich fragt: Vielleicht sind alle anderen verrückt und (nur) ich bin normal? Eine Geschichte aus dem Holocaust erzählt, wie in einem ukrainischen Dorf alle Juden von einer deutschen Einsatzgruppe aus ihren Häusern getrieben und erschossen wurden. Die Bewohner des Dorfes sahen schweigend dabei zu. Nur eine einzige Frau schrie, um das Morden aufzuhalten: „Ihr Wahnsinnigen – was tut ihr?“ Später stellte sich heraus, dass sie in dem Dorf als verrückt galt.

Ich kenne den Vorwurf, Scharon habe den Ausbruch der Gewalt provoziert, indem er sich, umgeben von hundert Polizisten, auf den Tempelberg begab. Es wird behauptet, es sei ihm von einem amerikanischen Berater (dessen Sohn natürlich nicht in der israelischen Armee dient) empfohlen worden, um sein Image zu verbessern und seine Sache voranzubringen.

Aber es war nicht allein dieser Vorfall, der das Feuer entfacht hat. Scharon hat nur den Funken geliefert, der noch fehlte. Das eigentliche Problem liegt in dem immensen Potenzial, welches aus Misstrauen, Angst, Hass und der Unfähigkeit entsteht, sich von der Idee zu verabschieden, dass „all das uns allein gehört“. Leider prägen diese Gefühle noch immer die Einstellung vieler Palästinenser und Israelis. In der letzten Zeit sind sie so stark geworden – vielleicht aufgrund des sich anbahnenden Friedensabkommens –, dass unsere politischen Führer ihre Völker nicht überzeugen konnten, die Vernunft gegen den Wahnsinn zu stärken. Was bedeutet Wahnsinn? Der Wahnsinn ist, dass wir irgendwann in ferner Zukunft, nachdem es hunderte weiterer Opfer gegeben hat, wieder dort ankommen, wo wir jetzt schon sind – nur noch desillusionierter, erschöpfter und verletzter.

Die gewaltsamen Vorkommnisse haben all die enormen Anstrengungen zerstört, die Menschen in den letzten Jahren in den Friedensprozess investiert haben. Diese Menschen, Israelis und Palästinenser, schufen Begegnungen, die darauf zielten, den „anderen“ anzuerkennen. Sie arbeiteten an einer neuen, gemeinsamen Basis im Bildungsbereich und waren an gemeinsamen Forschungs- und Wirtschaftsaktivitäten beteiligt.

Ein Beispiel dafür ist Prime, das Peace Research Institute in the Middle-East, das Professor Sami Adwan – einst Kämpfer in der Intifada – und ich 1998 gegründet haben. Hier arbeiten gleichberechtigt israelische und palästinensische Wissenschaftler. Sie überlegen unter anderem, wie gemeinsame Geschichtsbücher gestaltet werden können, die beide Perspektiven darstellen. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass die Erfahrungen palästinensischer Flüchtlingsfrauen in Oral-History-Projekten festgehalten werden. Sie organisieren den Erfahrungsaustausch von Wissenschaftlern, entwickeln Gesundheitsprogramme oder führen Umweltschützer von beiden Seiten zusammen.

Diese Zusammenarbeit, für die jeder in seiner eigenen Gruppe vielfach angefeindet wird, funktioniert, weil alle Beteiligten immer wieder bereit waren und sind, sich mit ihren eigenen Geschichten und Sichtweisen einzubringen. Sie haben gelernt, es auszuhalten, wenn das Gegenüber eine ganz andere Meinung vertritt.

Wie wichtig dieser Prozess ist, wechselseitig die eigenen Erfahrungen zu erzählen und anzuhören, hat mir ursprünglich das Pilotprojekt „To Reflect and Trust“ (TRT) gezeigt. Hier haben Nachkommen von Nazi-Tätern und -Opfern zum Gespräch gefunden, weil sie sich bedingungslos auf die Lebensgeschichten ihrer „Feinde“ einließen. Nach langjähriger gemeinsamer Arbeit versucht die Gruppe seit 1998, diese Verständigungsarbeit auf aktuelle Krisenregionen zu übertragen. Israelis, Palästinenser, Südafrikaner und Nordiren haben sich auf solch einen Prozess eingelassen. Leicht waren diese Begegnungen nie. Oft haben sie mich nachts nicht schlafen lassen. Besonders die Berichte der Palästinenser wühlten mich auf, weil sie mir ganz direkt auch meine Verantwortung deutlich machten. Letztendlich war aber die Konfrontation mit dem Leid notwendig, um eine gemeinsame Basis für unsere Zusammenarbeit zu finden.

In Israel und Palästina sind viele kleine Schritte der Annäherung gegangen worden. Sie haben die Mitwirkenden verändert, ihre Familien, ihre Freundeskreise. All diese Menschen haben einen Großteil ihrer Zeit und Energie investiert, um den Sprengstoff, der in so vielen Köpfen und Herzen liegt, zu überwinden. Ich habe daran teilgenommen, im Glauben an meine Rechte als israelischer Jude. Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass es noch andere Rechte, die der Palästinenser, gibt. Ich habe immer wieder erfahren, wie wichtig es für sie ist, dass ich das immense Unrecht anerkenne, das unser Volk (und andere) ihnen angetan hat. Aber auch sie haben meine sensiblen Punkte und meinen Schmerz kennen gelernt, die von ihnen anerkannt werden müssen.

All das wurde zunichte gemacht durch die Gewalttaten einiger Hitzköpfe, als hätten alle diese Bemühungen keine Bedeutung, als gäbe es etwas „Eigentlicheres“, das „nur uns“ gehört – als könnten wir „sie“ nun endlich „ein für alle Mal erledigen“.

Ein Irrtum. Auch wenn je ein Friedensvertrag zustande kommen sollte, wird das nicht mehr als ein Anfang sein. Denn ein Friedensabkommen kann nur die notwendigen, nicht aber die hinreichenden Bedingungen für einen Frieden schaffen. Jedes Abkommen, das nicht in den Herzen der Menschen verankert ist, kann – wie wir in den letzten Tagen gesehen haben – jederzeit gebrochen werden.

Das Herz tut mir weh, denn in den letzten Tagen haben die Politiker beider Seiten uns, den „peace builders“, zu verstehen gegeben, dass unsere Arbeit für sie unbedeutend ist. Ihrer Meinung nach wissen nur sie allein, was gut für ihre Leute ist. Unsere Art, die Dinge anzugehen, ist es angeblich nicht. Ich muss beiden, Barak und Arafat, sagen: Selbst wenn sie schließlich zu einer Einigung gelangen sollten, wird ihr von „oben nach unten“ wirkender Vertrag nicht das Papier wert sein, auf dem er steht, wenn der enorme Einsatz der „peace builders“ und ihre Art, den Frieden „von unten nach oben“ zu schaffen, missachtet wird. Der Vertrag wird wertlos sein, selbst wenn er mit dem Blut all derer geschrieben ist, die auf beiden Seiten für „ihre Nation“ oder „ihren Glauben“ gestorben sind und noch sterben werden.

DAN BAR-ON

Hinweise:Die Berichte der Palästinenser wühlten mich auf, weil sie mir meine Verantwortung deutlich machtenIch habe erfahren, wie wichtig es für die Palästinenser ist, dass ich das immense Unrecht anerkenne

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