: Die Blätter des Verschwinders
von VOLKER WEIDERMANN
Und dann endlich: kein Schreiben mehr. Es war der 19. Juni 1933, als der Schriftsteller Robert Walser aufhörte, ein Schriftsteller zu sein. Der neue Leiter der psychiatrischen Heilanstalt Waldau bei Bern hatte die Verlegung des „minder schweren Falles Walser“ ins Appenzeller Herisau beschlossen. Gegen Robert Walsers entschiedenen Willen. Denn er wusste wohl, dass ein Fortzug aus der vertrauten Umgebung Berns, wo er die Jahre vor seiner Einlieferung in die Anstalt verbracht hatte, ihn seiner letzten Kontakte zur Außenwelt berauben würde. Herisau bedeutete für Robert Walser den endgültigen Austritt aus der Welt da draußen. Und mit diesem endgültigen Austritt war auch sein Schriftstellerleben beendet.
Doch dieses Ende war nicht plötzlich gekommen. Es war kein abruptes Verstummen, kein Schweigen aus einem Affekt heraus. Robert Walser hatte schon Jahre vor dem Ende seines Dichtens begonnen, sich langsam aus der Welt herauszuschreiben, den Dichter Walser langsam verschwinden zu lassen. Robert Walser schrieb seit 1924 in winzig kleiner Schrift. Er bedeckte alle Arten von Papier, erhaltene Briefe, Kalenderblätter, Honorarabrechnungen, Visitenkarten, mit mikrografischen Buchstaben, die noch 1957, ein Jahr nach Walsers Tod, von seinem Vormund Carl Seelig als „Geheimschrift“ bezeichnet worden waren. Aber es war keine Geheimschrift. Es waren kaum erkennbare Sütterlinbuchstaben, die zu Beginn seines „Bleistiftelns“, wie Walser seine Kleinstschreibmethode nannte, immerhin noch etwa drei Millimeter hoch waren. 1933, kurz vor dem endgültigen Verstummen, maß so ein Buchstabe kaum noch einen Millimeter. Eigentlich vollkommen unlesbar.
523 dieser Mikrogramme unterschiedlichsten Formats sind erhalten geblieben. Vollständig transkribiert ergeben sie etwa 4.000 Seiten gedruckten Textes. Siebzehn Jahre lang haben Werner Morlang und Bernhard Echte im Züricher Robert-Walser-Archiv jeden Tag mit einer Lupe an ihrem Schreibtisch gesessen und Text um Text, Gedichte, Prosastücke, einen kompletten Roman und dramatische Szenen Stück für Stück aus der Unlesbarkeit geborgen. Etwa die Hälfte der Texte war von Walser nicht selbst ins Reine geschrieben worden und somit bislang unbekannt. Das ergab insgesamt sechs Bände und etwa 2.000 Seiten neue Walser-Texte: „Aus dem Bleistiftgebiet“.
An den letzten beiden Bänden, deren darin enthaltene Mikrogramme selbst von Walser-Transkribierungs-Experte Jochen Greven für ewig unentzifferbar gehalten worden waren, saßen die beiden nahezu zehn Jahre. Die letzten, die kleinsten Texte, kurz vor dem Verschwinden, waren nur noch, wie Bernhard Echte in seinem Nachwort schreibt, „mit einem Maximum an Intuition und nachvollziehender Phantasie“ zu erkennen und „mit der Fähigkeit zu warten, und sei es manchmal Jahre“. Die beharrliche Transkriptionsarbeit von Morlang und Echte ist eine heroische Editionsleistung.
Die Qualen, die das Entziffern bereitet haben muss, entspricht vermutlich in etwa der Qual, die es Robert Walser verursachte, seine Bleistiftlandschaften anzufertigen. Es war eine Art Selbstdisziplinierungsmaßnahme, die sich der in der Mitte der Zwanzigerjahre durch zahlreiche schriftstellerische Misserfolge in eine Schreibkrise geratene Schriftsteller selbst auferlegt hatte: „Ich verdanke dem Bleistiftsystem (...) wahre Qualen“, schrieb er 1927 an Max Rychner, „aber diese Qual lehrte mich Geduld, derart, daß ich im Geduldhaben ein Künstler geworden bin.“ Es sei ein Mittel, sich aus einem „Schreibfederüberdruß“ zu befreien. „Für mich ließ es sich mit Hilfe des Bleistifts wieder besser spielen, dichten.“ Und am Ende seines Prosastücks „Bleistiftskizze“ von 1927 heißt es sogar: „ ...ich glaubte, die beschriebene Arbeitsweise wachse sich für mich zu einem eigentümlichen Glück aus.“
Ein Glück. Man muss nur einmal eines der Mikrogramme in den Händen gehalten haben, um zu erkennen, welches Glück Walser meinte. Es ist das Glück des Schriftzeichners, des künstlerischen Textgrafikers und seine Freude über das ästhetische Kunstwerk, das er da mit jedem neuen Mikrogramm schuf, die Freude über die Schönheit der harmonischen Buchstabenblätter. In jede noch so winzige Prosatextlücke fügte er noch ein Gedicht – Länge je nach Platzbedarf –, jedes noch so kleine, billige Gebrauchspapier wurde ihm zur Leinwand seines Dichtens, und selbst der kleine Weißraum im Poststempel wurde etwa noch mit der schweizerdeutschen Frage „Hesch jetz gli einisch gnue dichtelet?“ gefüllt.
Nein, er hatte jetzt erst einmal noch nicht genug gedichtet. Die Zeit des Bleistiftgebiets ist die produktivste Phase im Leben des Dichters Robert Walser, der mit dieser Form des hoch konzentrierten, extrem verlangsamten Schaffensprozesses tatsächlich seine schwere Schreibkrise überwand, die ihn nach der Ablehnung zweier Romanmanuskripte und einiger Zeitungstexte sogar zu kläglich misslungenen Selbstmordversuchen geführt hatte.
Dass das Schreiben nun allerdings sogar „ein Glück“ sein soll, erscheint da fast übertrieben. Vom Schreiben schrieb Walser eigentlich nie anders als von einer Qual. Walser wollte aus der Ferne beobachten, aus der Ferne lieben. Das Schreiben danach war immer eher lästige Pflichterfüllung, gerechte Strafe für den genossenen Müßiggang zuvor. Schon früh hatte er in seinem „Brief eines Malers an einen Dichter“ seine Sehnsucht nach dem Nichts-mehr-müssen, dem Ende der Dichterpflichten beschrieben: „Ach, dass es doch nur auch schon mit der Liebe, die wir fühlen, mit der Freude, mit dem zufriedenen, bezaubernden Gedanken, mit dem Sehnen, dem heißen, gutherzigen Wunsch oder mit dem bloßen, reinen, glücklichen Schauen getan wäre.“
Die Texte des Bleistiftgebiets sind auch eine Art Präludium dieses Abschieds, Chronik eines angekündigten, eines ersehnten Verstummens. „Man glaubt nicht, was mir diese Verse hier für Mühe machen“, steht da, oder: „Ich Armer muss hier ein Gedicht verfassen“ und schließlich: „An vorliegende Zeilen hinzutreten kostete mich Überwindung, gewissermaßen nötigte ich mich dazu, habe mir jedenfalls untersagt, mich dem Glauben hinzugeben, ich möge nicht recht, es sei mir zuwider, ich hätte keine Lust. Wie gern, wie leicht spräche man zu sich: ‚Ich habe es nachgerade satt‘, aber ich bin überzeugt, daß niemand, der sich als Mitglied der Gesellschaft fühlt, (...) sich für berechtigt halten kann, leichthin zu Müdigkeiten zu neigen.“
Doch bevor sich Walser, nach dem Juni 1933, nachdem er sich nicht mehr als Mitglied jener Gesellschaft fühlen musste, der großen Müdigkeit hingab, dichtete er noch, und es ist seine große Kunst, dass von dieser Dichtermühsal in den Texten bis zum letzten Moment beinahe nichts zu spüren ist. Im Gegenteil sind die Texte der letzten beiden Bleistiftbände von einer fabulierfreudigen Leichtigkeit, wie kaum ein Walser-Buch zuvor. Immer öfter fällt er sich selbst ins Wort, kommentiert seine Texte, feuert sich an, bezieht den erdachten Leser in sein Schreiben ein: „Ob’s wohl richtig ist, wenn ich sage, der Wind ging?“, fragt er. Oder er erklärt: „Wenn ich den sehr geehrten Leser von einem Einfall in Kenntnis setzen darf, der auf mich herzugetänzelt kam ...“ und lobt: „Vielleicht gehört es zum Schönsten in dieser Novelle, daß nun von irgendwo eine Dame auftauchte ...“ Mitten in einem Gedicht heißt es plötzlich: „Ich schreibe den Rest in Prosa“ und er schreibt den Rest in Prosa.
Ob sich hier Spuren seiner diagnostizierten Schizophrenie zeigen, mögen andere entscheiden. Auf jeden Fall verleihen diese Selbstkommentare, verbunden mit der feinen Walserbuchstabentänzelei, den letzten Texten eine wunderschöne, zarte Schwingung, die von einer Lebensleichtigkeit des Schreibers zu zeugen scheint, an die man jedoch nie wirklich glauben kann. Denn: Walser ist, was er verschweigt. Schreibend umkreist er sein Leiden in immer engeren Satzspiralen. Seine Angst und seine Einsamkeit. Wörtlich: Er umschreibt es. Er schreibt sich scheinbar dicht heran, und kurz bevor es heikel wird, schwadroniert er sich davon, gibt an, einem anderen, neuen Einfall folgen zu müssen, und findet zur alten Leichtigkeit zurück. Elias Canetti hat einmal geschrieben: „Walsers Dichtung ist ein unablässiger Versuch, die Angst zu verschweigen.“
Die Angst, ja, und die Einsamkeit. Walser ist allein. Auch unter Menschen ist der Ich-Erzähler, der Ich-Dichter dieser Bleistiftstücke vollkommen allein. Er ist von den Menschen, vom Glück der Menschen wie durch eine Glasscheibe getrennt. Jede Nuance der Oberfläche der Anderen wird auf das genaueste beschrieben. Ein Kontakt findet nicht statt. Und wenn er von einem Fest, einem vollkommen gelungen Fest des Glückes schreibt, heißt es etwa: „Strahlende strahlten Anstrahlungsbedürftige an ... Entfremdete befreundeten sich ... Bis zum Morgen dauerte das Fest. Ich bedauerte nicht, mich daran beteiligen unternommen zu haben.“ Kein Zufall, dass der letzte Satz plötzlich so verschrobelt und kompliziert verstellt klingt. Denn dieses „Ich“, das angeblich nicht bedauert, sich am Fest zu beteiligen unternommen zu haben, hat natürlich überhaupt nicht teilgenommen. Bei der allgemeinen, großen Vereinigung der letzten scheinbar nicht Vereinigbaren steht er dabei und bleibt und schaut. Ein radikaleres Nicht-Dazugehören als das Robert Walsers ist kaum vorstellbar.
Seine Krankheit, schrieb Walser im „Räuber“-Roman, der im dritten Bleistiftband abgedruckt ist, bestehe „in einem zu vielen Liebhaben. Ich habe einen ganz entsetzlich großen Fonds an Liebeskraft in mir, und jedesmal wenn ich auf die Straße trete, fange ich an, irgend jemand lieb zu gewinnen.“ Walser, der bei seinem Eintritt in die Heilanstalt dem Arzt glaubhaft versichert hatte, nie mit einem Menschen intim gewesen zu sein, und auch in seinen Büchern immer wieder darauf hinwies, das „nicht zu brauchen“, besaß ein Übermaß an Empathie.
Die Distanz, die er zu seinen Figuren hält, ist eine Distanz der Angst. Angst vor dem eigenen Gefühl. Schon früh hatte er Simon Tanner einmal sagen lassen: „Ich bin ein ganz mitleidloser Mensch. Meinen armen Bruder Emil habe ich längst vergessen. Ich komme auch gar nicht dazu, an ihn zu denken, denn sehen Sie, ich bin einer, der so in der Welt steht, daß er sich mit Händen und Füßen wehren muß, um aufrecht zu stehen.“ Der letzte Satz hebt den ersten auf. Natürlich ist Tanner, ist Walser, alles andere als ein mitleidloser Mensch. Er zwingt sich zur Mitleidlosigkeit, weil ihn sein grenzenloses Mitfühlen ansonsten aus der Lebensbahn werfen würde. Als Walsers Lieblingsschwester Lisa im Sterben lag, lehnte er einen letzten Besuch mit den Worten ab: „Nein, nein, so gern ich sie hab’, solchen Frauen-Finetteleien dürfen wir nicht nachgeben! Uns ist es nun einmal gegeben, spazieren zu gehen.“
Spazieren gehen und Schreiben. Das waren die beiden Mittel Robert Walsers, sich die Welt vom Leib zu halten. Später, in Herisau, bedurfte er des Schreibens nicht mehr. Seine Abgeschiedenheit von der Welt war nahezu vollkommen. So vollkommen, dass es keinen Grund gibt, anzunehmen, er sei unglücklich gewesen, in seinen letzten 23 Lebensjahren, die er, ohne zu schreiben, in Herisau verbrachte. Im Gegenteil: „Wer du auch bist, der dies liest, ich ersuche dich auf die gefühlvollste Art, mich nicht für bemitleidenswert, sondern eher für beneidenswert zu halten“, schrieb er in einem Mikrogramm. Und der letzte Prosaband aus Walsers Bleistiftgebiet endet einfach so: „O, wie schön ist einerseits Vergessen und anderseits das Vergessenwordensein. Man denkt sicher zu oft an das und das und den und den. Nun ist’s mir sehr wohl.“
Robert Walser: „Aus dem Bleistiftgebiet“.6 Bände. Hrsg. von Bernhard Echte und Werner Morlang. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/M. 2000. 298 DM
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