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BÖRSEN, KURSABSTÜRZE UND DIE ERNÜCHTERTE MITTELSCHICHTGeld schwätzt, Reichtum flüstert

Pech gehabt. „Meine ganzen Gewinne der letzten zwei Jahre sind futsch“, seufzt ein Chatter auf www.wallstreet-online.de, wo sich die Börsenzocker regelmäßig über Erfolge und Misserfolge austauschen. Mit den Kursabstürzen am Aktienmarkt kommt bei den Anlegern Katerstimmung auf. Plötzlich wirkt die Börse unsexy. Vor allem aber wird klar: Der Glaube an den schnellen Reichtum war kein Zeichen von Informiertheit und Klugheit, sondern von Dummheit. Und das kränkt.

Noch im Frühjahr dieses Jahres boomten Wirtschaftsmagazine, Fernsehsendungen mit Aktientipps verzeichneten hohe Einschaltquoten. Der Anteil der Aktionäre und Fondsbesitzer an der Bevölkerung verdoppelte sich von 8,9 Prozent im Jahr 1997 auf 17,7 Prozent im ersten Halbjahr 2000. Doch die Euphorie hatte streckenweise den Charakter einer Heizdeckenfahrt. Bald kursierten Geschichten über Börsenberater, die sich erst mal mit Aktien versorgten, bevor sie dieselben in ihren Beratungssendungen anpriesen und so die Kurse nach oben trieben. So genannte Gewinnwarnungen, also Ankündigungen von Unternehmen über einen bescheidenen Geschäftsverlauf, drückten ebenso wie der hohe Ölpreis die Kurse nach unten. Inzwischen dämmert vielen, dass der Aktienmarkt eine paradoxe Angelegenheit ist: In dem Moment, in dem die meisten aufgesprungen sind und die Ersten schon wieder verkaufen, machen sich die Kurse auf dem Weg nach unten.

Money talks, wealth whispers: Der Spruch, mit dem sich die angelsächsische Oberschicht dereinst gegenüber den Emporkömmlingen abgrenzen wollte, passte auch auf die Partystimmung, die in den vergangenen Monaten an den deutschen Börsen in der Bundesrepublik herrschte. Die verflogene Börseneuphorie kann so auch als Chiffre für postindustrielle Aufstiegshoffnungen einer breiten Mittelschicht gelesen werden.

Die Berichte über hohe Kursgewinne erzeugten für eine Mehrheit noch einmal die Illusion einer geradezu spielerisch sozial-mobilen Gesellschaft. In der Wirklichkeit hingegen hat die soziale Mobilität der Mehrheit längst nicht mehr die breite, verlässliche Dynamik wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren, als die Facharbeiter in Großunternehmen mit stetigen Lohnzuwächsen und dem eigenen Häuschen rechnen konnten. Die Mittelschicht, die sich Telekom-Aktien und andere Wertpapiere gekauft hat, ist börsenernüchtert. Die Reichen bleiben selbstverständlich reich. Und wer gar nicht mitspekulieren konnte, darf ein bisschen schadenfroh sein. Geld ist eben doch unsexy. Und das wiederum ist nur gerecht. BARBARA DRIBBUSCH

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