das wetter: möhre verzweifelt (5):
Das Fräulein erblasste und rief: „O mein Gott! Das ist ja grauenhaft, ich bin in einem furchtbaren Alptraum gefangen.“ Geheimrat Möhre näherte seine Lippen den Ohren des Fräuleins und sagte leise: „Nein, Liebste, kein Alptraum ist es, den du erlebst, sondern ein wunderschöner Märchentraum. Wir werden uns für den Rest unserer Leben bei den Händen halten und gemeinsam durch Wald, Feld und Flur tanzen, uns lieben, singen, Wein trinken, die Götter preisen und ins ferne China reisen. Ach, schon spüre ich wieder ein Gedicht in meinem Herzen aufsteigen und sich – ungestüm seinen Weg durch das rubinrote Tor meines Mundes in die Freiheit bahnbrechend – lauthals Gehör verschaffen!“ Er reckte einen Arm gen Himmel und dichtete wieder: „Unter Götterpreis und Singen / werd ich den Chines verjüngen / Liebste, achte nicht den Regen / Lass auch dir die Brust bewegen.“ Das war für das Fräulein endgültig zu viel. Es holte weit aus und versetzte dem Geheimrat eine schallende Ohrfeige. Der Geheimrat taumelte nach hinten, stolperte rücklings über einen Stuhl und plumpste zu Boden. Verständnislos starrte Möhre die junge Dame an, die mit rauschenden Röcken und hoch erhobener Nase und dem Ausruf „Stümper!“ das Kaffeehaus „Zum Lieblichen Fräulein“ verließ.
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