: Berliner Überlebenslauf
Der Klavierstimmer und freischaffende Trinker Oskar Huth versorgte während des Zweiten Weltkriegs mehr als 60 Berliner Juden mit gefälschten Pässen und Lebensmittelkarten
von HELMUT HÖGE
In Berlin hat Solidarität immer eine große Rolle im Kampf gegen die herrschenden Reaktionäre gespielt, und das nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern auch unter den Ostjuden und russischen Exilanten. Nach dem Krieg war Solidarität ein Thema vor allem in der Berliner Studentenbewegung. Ich denke dabei vor allem an die zwei SDS-Aktivisten Peter Rambauseck und Rüdiger Stuckart, die in den Siebzigerjahren eine Werkschule für Heimjugendliche mitbegründeten und sich seitdem eigentlich nur noch um andere gekümmert haben. Aber nicht von ihnen soll hier die Rede sein, sondern von unserem großen Vorbild Oskar Huth.
Der 1991 gestorbene Klavierstimmer Oskar Huth hat drei Fankreise hinterlassen: Zunächst in der Ku’damm-Kneipe „Lusiada“, wo man ihn 1978 mit dem Buch „Für den Fall der Nüchternheit“ ehrte. Dann im „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz, wo der Maler Alf Trenk 1994 die „Ansichten und Erinnerungen“ von Oskar Huth unter dem Titel „Überlebenslauf“ zusammentrug. Das Buch ist auch nur in dieser Kneipe käuflich zu erwerben. Und dann gibt es noch einen Fankreis im „Hoek“ in der Wilmersdorferstraße, zu dem unter anderem Thomas Kapielski und Jes Petersen gehören. Am Rande dieses Kreises entstand 1992 auch der kleine Film „In Memoriam Oskar“.
Die Amerikaner trugen Oskar Huth nach dem Krieg eine Stelle im Kultursenat an, er zog es jedoch vor, „freischaffender Trinker“ zu bleiben. Bis zuletzt lebte er in der Wohnung seines Vaters im Wedding. Ich traf ihn in seinen letzten fünf Jahren meist in der Galerie Petersen in der Goethestraße. Er besaß die Fähigkeit, auch noch sturzbetrunken fast druckreife Prosa zu reden. Leider weiß ich erst jetzt, da ich mich mit den jüdischen Ghettos in Warschau, Krakau, Lodz, Wilna und anderswo beschäftige, was ich ihn alles hätte fragen können. Die jüdischen Solidaritäts- bzw. Widerstandsbewegungen in den Ghettos schufen sich draußen – „auf der arischen Seite“ – ein Netz von illegalen Wohnungen, von wo aus sie Waffen, falsche Papiere und weitere Verstecke besorgten.
Absurderweise war es in Berlin für Juden leichter unterzutauchen als in Polen, weil die Deutschen nur ein Klischeebild vom Juden hatten, während es unter den Polen viele gab, die sich darauf spezialisierten, Juden zu erkennen und zu denunzieren bzw. zu erpressen. Viele geflüchtete Juden kehrten von der arischen Seite oder aus den Wäldern wieder zurück ins Ghetto und in den sicheren Deportationstod, weil sie es nicht schafften, dem „Szmalcownicy“ zu entkommen. Und dann kosteten auch die Unterschlupfmöglichkeiten bei christlichen Polen oft sehr viel Geld: Solidarität als Dienstleistung. Oskar Huth bekam 1939 im Botanischen Garten pro forma eine Stelle als Zeichner, 1941 tauchte er mit falschen Papieren unter.
Er besorgte sich eine Druckmaschine, die er in einem Keller am Breitscheidplatz versteckte. Damit fälschte er fortan Pässe und Lebensmittelkarten. Fast 60 Menschen, überwiegend Juden, die sich in Wohnungen, auf Dachböden und in Kellern versteckt hielten, konnten damit überleben. Ihre Unterkünfte waren über ganz Berlin verstreut, Oskar Huth versorgte sie mit Lebensmitteln – in einem jahrelangen „monsterhaften Latsch durch die Stadt“, wie er einmal erzählte: „Alles hing natürlich an einem seidenen Faden. Wer wirklich Leute versteckte, das waren die Proletarier untereinander. Die Ärmsten halfen den Armen. Und die Leute, die wirklich Möglichkeiten hatten – da war nichts, gar nichts.“
Für das schmächtige Männchen – „Hüthchen“ genannt – war Solidarität „eine artistische Balancemeierei - unvorstellbar . . . Aber was mit geholfen haben muss durchzukommen, ist wohl, dass mich die Leute hinsichtlich meiner Nervenfestigkeit, meiner physischen Kraft und, wenn ich’s mal ein bisschen eitel sagen darf, auch, was die Sache eines gewissen Witzes angeht, unterschätzt haben.“
In den letzten Tagen des Krieges brachte er sogar einen „besonders widerwärtigen Nazi und Einpeitscher“ um, indem er und ein zur Zwangsarbeit verpflichteter Franzose den Mann im Rollstuhl in ein brennendes Nebenhaus schoben: „So, da war einer weniger da.“
Gegen Ende seines Lebens meinte Oskar Huth: „Wenn es nach diesem Dasein nichts mehr gibt, dann hab ich versäumt, etliche Kanaillen abzumurksen . . . Aber der Spielraum, aus sich was anderes zu machen, als einem prädestiniert ist, der ist ein lächerlich geringer.“ Immerhin bescheinigten ihm die Amerikaner 1946 die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“. 1991 begruben ihn seine Fans auf dem Jerusalemer Friedhof, nicht weit entfernt vom Grab E.T.A. Hoffmanns.
Ich will abschließend nur noch erwähnen, dass die von Oskar Huth einst gefälschten Lebensmittelkarten im Gegensatz zu den offiziellen sogar Wasserzeichen hatten – also echter als die echten waren.
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