: ... keine Dankbarkeit
Jung ist sie und bereit, ihren Schutzbefohlenen zu helfen. Im Prinzip jedenfalls. Doch in der Praxis läuft nichts so, wie sie es sich einmal vorgestellt hat. Das Protokoll eines Scheiterns
von CORNELIA KURTH
Ich wohn jetzt mit lauter Mädchen im Schwesternwohnheim, soziales Jahr in der Behindertenbetreuung, na klasse. Der Hausmeister kam hoch in unseren vierten Stock und sagte, unsere Küche wäre der größte Saustall, er kann das nicht mehr verantworten, und dann setzte er sich eine Stunde lang auf einen Hocker und guckte zu, wie wir aufräumten. Es sieht aber auch wirklich grauenhaft aus bei uns. Gestern habe ich das erste Mal in der ganzen Zeit, die ich jetzt hier im Wohnheim bin, abgewaschen. Es ging nicht anders, die anderen Mädchen haben einfach zu großen Druck gemacht. Seit Tagen schon haben sie mir immer meine Töpfe vor die Zimmertür gestellt, die wollten sie nicht spülen, weil Fleischreste drin waren, und die sind doch alle Vegetarier. Die im dritten Stock sind ganz ordentlich, ich weiß nicht, warum alle Schlampen immer im vierten Stock landen.
Ich hatte neulich ein Gespräch mit den Leuten vom Büro hier. Sie haben gesagt, dass es bald keine Klienten mehr für mich gäbe, weil alle sich über mich beschweren. Die finden, ich wär so arrogant und würde immer meckern. Na ja, ich meckere wirklich oft, aber die Behinderten, die behandeln mich auch wie ihren Haussklaven, wie den letzten Affen. Grad bin ich beim Abwaschen, da ruft mich Sabine und will, dass ich ihr die Socke hochziehe. Okay, ich trockne mir die Hände ab und mach es. Kaum bin ich wieder am Abwasch, da will sie, dass ich das Fenster zumache. Ich geh hin und mach das Fenster zu, geh zurück in die Küche, schon ruft sie wieder, dass ich ihr die Nase putzen soll. Da hab ich ihr die Nase abgewischt und gesagt: „So, und wenn du noch was willst, dann sag es jetzt, meinetwegen fünf Sachen auf einmal, aber sag es jetzt!“ Da war sie beleidigt und hat sich beschwert. Die im Büro haben gesagt, Sabine sei immer so und noch nie habe sich jemand drüber aufgeregt. Aber ich lass mir das nicht gefallen! Ich springe doch nicht für Leute, die nur durch die Hilfe von anderen leben und allen auf der Tasche liegen. Wenn sie sich auch mal bedanken würden oder sonst irgendwie nett wären, ja – aber das sind sie nicht. Sie tun alle so, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, einen Haussklaven zu haben.
Und dann finden sie es unmöglich, wenn ich Gummihandschuhe anziehe beim Hinternabputzen. Ich sag extra locker: „So, wo haben wir denn unseren kleinen Freund und Helfer?“, damit sie es nicht persönlich nehmen, aber ich seh doch, wie sich das Gesicht verzieht. Ich kann mich da echt aufregen. Wie komme ich dazu, jemandem meinen nackten Finger in den Hintern zu stecken? Und es sind ja auch extra Gummihandschuh dafür da, es ist ganz normal.
Ich hasse die ganzen Behinderten, ich glaube, ich werde nie wieder in meinem Leben nett zu einem Behinderten sein. Zum Glück verstehe ich mich wenigstens mit den Mädchen im Wohnheim, in unserem vierten Stock. Zuerst dachte ich ja, die seien alle bescheuert, weil sie alle Vegetarier sind, aber inzwischen finde ich die meisten echt nett. Sie kochen sogar für mich mit, und manchmal ist vegetarisches Essen gar nicht mal so übel, Gemüselasagne und so was. Wir haben alle einen Hass auf die Behinderten, alle! Wenn wir durch die Stadt gehen und sehen einen im Rollstuhl, dann kreischen wir: „Ihhh, guck mal da, wie eklig!“
Ich hatte mir so viel Mühe gegeben mit Jessika, der Spastikerin, die nur ihren Kopf bewegen kann, sonst nichts, nicht mal sprechen. Und sie, sie hat gesagt, sie will jemand anderen haben! Als wenn die Besseres gewöhnt wäre! Sie lebt in einer totalen Asozialenfamilie. Die hängen alle den ganzen Tag in der Wohnung rum, keine Arbeit, kein Geld. Als ich zum ersten Mal reinkam, sagte Jessikas Schwester: „Lass dich von der bloß nicht unterbuttern, die tyrannisiert jeden, die ganze Familie und alle Pfleger.“ Das war so Schwesterngeflachse, ganz normal unter Geschwistern. Ich fand die Schwester echt cool. Jessika konnte natürlich nicht sofort antworten, sie wollte zu ihrem Spezialcomputer und eine Antwort schreiben. Das dauert natürlich, und wer hat schon Lust, so was zu lesen?
Trotzdem hab ich mir große Mühe mit ihr gegeben, denn ich dachte die ganze Zeit: Wozu lebt sie, wie kann sie auch nur den geringsten Spaß am Leben haben, es ist ein absolut sinnloses Leben. Und da hab ich wenigstens alles getan, was sie wollte. Aber an einem Nachmittag, da schrieb sie immer nur in ihren Computer, dass sie sterben will, weil niemand sie liebt und so weiter, all diese Dinge, die ich sowieso schon die ganze Zeit über sie und ihr Leben dachte. „Bring mich um!“, schrieb sie. Und plötzlich wurde ich fürchterlich wütend auf sie. „Ich würde es tun“, hab ich gesagt, „aber ich kann mir nicht mit so was die Hände schmutzig machen, das musst du schon irgendwie selbst hinkriegen!“
Nein, das habe ich nicht gesagt. Zuerst habe ich noch stundenlang versucht, ihr die lebenswerten Seiten ihres Lebens aufzuzählen. Das war nicht leicht, nach einer Weile fiel mir echt nichts mehr ein. Ich sagte: „Ich kann dich verstehen, Jessika, aber soll ich dich jetzt aus dem Fenster stürzen? Ich würde es tun, aber das wäre Mord.“ Und danach hat sie dann gesagt, sie will nicht mehr von mir gepflegt werden. Ich war so sauer auf sie. Was wollte sie denn, dass ich tun soll?
Die anderen Mädchen haben gesagt, das wär normal, dass ein Klient einen nicht haben will, ich soll mich nicht so aufregen. Aber bei mir ist es gleich die erste Klientin. Ich war ja überhaupt erst drei Mal bei ihr. Niemand, niemand sonst wurde gleich von der ersten Klientin abgelehnt. Ich finde, das ist eine Unverschämheit! Das Buch, das Jessika geschrieben und mir geliehen hat, das lese ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr. „Mein Leben ist wunderbar!“ heißt das Buch – ha, ha, dass ich nicht lache.
Ich muss wieder unter meinesgleichen sein, vernünftige Leute, die allein durchs Leben gehen können. Okay, bis jetzt kann ich noch nicht allein durchs Leben gehen, aber trotzdem muss ich hier weg. Ich kann das Geruckel und Gezappel und Sabbern und Augenverdrehen nicht mehr ertragen. Ich geh in eine Werbeagentur oder werde Versicherungskauffrau, so eine miese, fiese Versicherungskauffrau. Mann, würde mir das Spaß machen, diesen ganzen armen Schweinen eine möglichst gemeine Versicherung anzudrehen.
Sie wollen mich rausschmeißen. Sie haben gesagt, dass nicht jeder für die Arbeit mit Behinderten geeignet ist. Sie sagen nicht direkt, dass sie mich rausschmeißen. Sie sagen nur, dass ich es mir noch einmal gut überlegen soll, ob ich die Arbeit ein ganzes Jahr lang durchhalte. Ich müsste meinen ganzen Charakter umändern, sagen sie. Ich soll nicht Animateurin sein für die Behinderten, sondern deren Arme und Beine ersetzen. Ich soll keine Verbesserungsvorschläge und Scherze machen, sondern einfach freundlich sein. Sie sagen, die Behinderten kennen schon so viele Betreuer, die merken, wenn die Freundlichkeit nicht echt ist.
Morgen ist wieder so ein Gespräch, in dem ich mich zu allem äußern soll. Ich konnte aber gar nicht richtig über die Sache nachdenken, denn ich habe ja keine Wahl. Was soll ich denn tun, wenn sie mich hier rausschmeißen? Noch ein Jahr rumgammeln, das überleb ich nicht. Und ich überlebe auch nicht, wenn alle wieder sagen, dass ich meine Zeit verschwende und meine Jugend vertue. Ich gebe mir doch schon die größte Mühe! Noch nie vorher hab ich mich für etwas so angestrengt.
Jetzt betreue ich eine alte Frau, 79 Jahre alt, Selma Biedermann, der Name ist Programm. Sie will, dass ich ihre Sofakissen genau ausrichte, und es ist ihr vollkommen egal, dass ich zehn Minuten brauche, bis ich endlich mit ihren blöden Sofakissen fertig bin. Die regt sich so grausam auf, wenn ich es nicht ganz genau so mache, wie sie es will. Natürlich versteh ich, dass die Behinderten nicht entmündigt werden wollen, aber dass man so gar kein bisschen Dankbarkeit für diesen Scheißjob erntet, das verstehe ich nicht. Dass man den Neger machen soll, das ertrag ich nicht. Im Grunde denke ich immer noch, man sollte die alle umbringen, oder nein, das nicht, aber abtreiben, sobald man weiß, dass es ein behindertes Leben wird. Ich kann es nicht ändern, dass ich immer denke, die leben von unseren Steuern ein sinnloses Leben, und ich bin der Sklave, dem man nicht mal danke sagt.
Die anderen Mädchen, die sind so sozial, die wollen ja auch alle in dem Bereich später arbeiten. Ich bin die einzige, die das alles eigentlich gar nicht will. In den Gesprächen, wo sie mich prüfen, da sag ich das natürlich nicht. Ich sage: Ich möchte so gern weitermachen, ich hab mir das nun mal vorgenommen, es ist mein Ziel, das durchzuhalten – aber in Wirklichkeit ist es gar nicht mein Ziel. Ich will für ein Jahr nach Amsterdam, in einem Hotel arbeiten oder so was.
Und dann bin ich vor ein paar Tagen wieder mit meinem Bein umgeknackst. Ich war in der Disko und wollte ein paar Stufen runterspringen. Es muss doch wohl möglich sein, einfach ein paar Treppenstufen runterzuspringen. Nichts da, jetzt geh ich schon wieder an Krücken! Und die Leute im Büro vom Wohnheim, die dürfen das nicht merken, sonst schmeißen die mich wirklich raus. Jeden Morgen geh ich jetzt also vor acht Uhr los, und wenn ich mittags mal um zwölf Schluss habe, dann muss ich mich noch vier Stunden irgendwo rumdrücken, weil das Büro bis sechzehn Uhr besetzt ist und die mich sehen könnten. Und außerdem muss ich monatelang eine Beinschiene tragen, ein richtig fettes Ding. Ich werde nie wieder eine Hose tragen können, denn da passt keine Hose drüber. Und die Schiene über der Hose? Das sieht ja unmöglich aus! Wie eine Behinderte, wie ein Krüppel! Ich habe Angst.
CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln. Ihr Jugendbuch „Frederikes Tag“ ist jüngst bei Rotfuchs als Taschenbuch erschienen, 95 Seiten, 9,90 Mark. Im Frühjahr erscheint dort „Ein Jahr mit 90 Tagen“ – angelehnt am Inhalt der vorliegenden Erzählung
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