: Keine Einbahnstraße
Auf der Werteskala demokratischer Tugenden steht Solidarität ganz weit oben – als unverzichtbare Erfahrungfür das Zusammenleben
von HILDEGARD HAMM-BRÜCHER
Einst, in den 70er-Jahren, da war „Solidarität“ ein politisches Signal. Es kam aus Polen und setzte in den damals noch kommunistischen Ländern Europas Zeichen – für Zusammenhalt im Widerstand gegen Unrecht, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen, im Sinne der Charta von Helsinki. In Diktaturen erforderte das Zivilcourage und konnte Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Auch in unseren westlichen Gesellschaften solidarisierten sich damals viele Menschen. Auch sie zeigten Zivilcourage, aber ohne Gefahr für Leib und Leben.
Dank Michail Gorbatschow und des friedlich-solidarischen Umbruchs in Osteuropa muss heute in Ost und West niemand mehr um Leib und Leben fürchten, wenn er sich mit Unterdrückten und Andersdenkenden solidarisiert.
Aus diesem höchst erfreulichen Grund hat der Begriff leider viel von seiner Faszination, Brisanz und politischen Wirkung eingebüßt. Ist aber Solidarität demzufolge auch als Begriff für zwischenmenschliche Verantwortung und Bindekraft überflüssig geworden?
Können freie Gemeinwesen ohne Solidarität auskommen? Meiner Überzeugung nach ganz sicher nicht. Im Gegenteil! Wir brauchen Solidarität dringender denn je zur Definition und Gestaltung der sozialen und moralischen Bedingungen. Und eine so definierte und praktizierte Solidarität erfordert wie eh und je Zivilcourage, Einsatzbereitschaft und Stehvermögen.
Wie ist es darum bei uns bestellt? Leider nicht zum Besten, aber auch nicht zum Schlechtesten. Dank engagierter BürgerInnen gibt es mehr Zivilcourage und Solidarität, als unsere von Sensationen lebenden Medien publik machen. Aber gerade diese meist unspektakulären Formen von praktizierter Solidarität sind es, die ich auf der Werteskala dringend benötigter demokratischer „Tugenden“ ganz oben ansetzen möchte. Solidarität heute – dabei geht es meist um ein überschaubares Engagement für Gefährdete und Verfolgte im eigenen Land oder im Nachbarland, um scheinbar ausweglose politische, soziale oder humanitäre Anliegen. Das ist mehr und etwas anderes als kurzfristiges Aufbegehren, als eine Unterschrift unter einen Aufruf oder eine kleine Spende bei Katastrophen.
Im Zeitalter der Globalisierung brauchen freie Gesellschaften Solidarität als Lernziel, das in Schulen und Elternhäusern eingeübt und von der Gesellschaft praktiziert wird. Mehr denn je brauchen wir Solidarität als eine Art Bürgerbewegung in einer sich kaum noch als Solidargemeinschaft empfindenden Gesellschaft.
Die Suche nach Beispielen praktizierter Solidarität hat sich die überparteiliche Theodor-Heuss-Stiftung, deren Vorsitzende ich bin, zur Aufgabe gemacht. Und ich bin immer wieder hoffnungsvoll, wenn wir auf ermutigende, ja bewundernswerte Beispiele praktizierter Solidarität stoßen. Wir versuchen dann im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, etwa bei Kommunen, Schulverwaltungen oder anderen Behörden.
Einige Beispiele für viele seien genannt. Erstens: Da gibt es das „Netzwerk für ein tolerantes Eberswalde“. Es wurde vor einigen Jahren von Studenten und Dozenten der dortigen Fachhochschule gegründet und von Bürgern und der couragierten Polizeipräsidentin Uta Leichsenring tatkräftig unterstützt. Das Netzwerk hilft, beschützt und unterstützt auf vielfältige Weise ausländische Mitbürger, die in Eberswalde besonders gefährdet sind. Zum Beispiel mit der „Aktion Noteingang“, die wiederholt ausländerfeindliche Übergriffe verhindert oder abgefangen hat und die Beratung und Hilfe bietet.
Zweitens: Seit 1998 engagieren sich bundesweit hunderte von SchülerInnen in dem selbst verwalteten Projekt „Schüler helfen leben“. Viele von ihnen arbeiten mit am Wiederaufbau zerstörter Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser in jugoslawischen Bürgerkriegsgebieten. Die Jugendlichen veranstalten Hilfsaktionen für Flüchtlinge und Begegnungen zwischen ethnisch verfeindeten Gruppen oder helfen Rückkehrern beim Wiederaufbau ihrer Häuser und der Landwirtschaft.
Drittens: SchülerInnen aus Bremen solidarisieren sich mit der Parole „Ibrahim muss bleiben“ mit ihrem togolesischen Mitschüler, dem die Abschiebung in das für ihn und seine Angehörigen gefährliche Herkunftsland droht. Sie sammeln Unterschriften, besuchen Politiker, erarbeiten Berichte über Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in Togo und helfen Ibrahim bei seinen alltäglichen Schwierigkeiten. Dabei geraten sie und ihre Lehrer immer wieder in Konflikt mit den zuständigen Behörden und Politikern.
Viertens: Zusammen mit ihrem Bürgermeister, mit geistlichen und weltlichen Würdenträgern kämpfen BürgerInnen der Stadt Arnsberg im Sauerland beim nordrhein-westfälischen Innenminister gegen die Abschiebung von 200 Kosovo-Flüchlingen. Dabei geht es ihnen nicht nur um den Verlust der langsam gewachsenen Bindungen und Freundschaften mit den zunächst unerwünschten „Fremden“.
Zuerst und vor allem geht es ihnen um Solidarität mit Menschen, die der zwangsweisen Rückkehr in ihre zerstörten Heimatdörfer und der Rache einheimischer Serben mit Angst und Schrecken entgegensehen. Hinzu kommt der Verlust an Zukunftschancen für ihre Kinder. „Warum sollen wir nicht mitentscheiden, wen wir bei uns haben und schützen wollen?“, bestürmen sie die Obrigkeit. Die hat sich schließlich bereit erklärt, die Abschiebung „neuerlich zu prüfen“.
Diese und viele andere Beispiele beweisen, dass es auch heute noch glaubwürdige Zeichen praktizierter Solidarität gibt (mal mit, mal ohne „Happy End“) und dass Solidarität niemals eine Einbahnstraße ist. Es erfordert immer ein Geben u n d Nehmen, wechselseitige Lernprozesse, Verständnis und Verständigung.
Es geht also um kostbare und unverzichtbare Erfahrungen für das friedliche und ebenbürtige Zusammenleben in freien Gesellschaften. Der Einsatz für Menschen in Not oder Gefahr, das Eintreten für das als richtig und notwendig Erkannte, die Dankbarkeit der Betroffenen, ihre Zuneigung und ihr Vertrauen – dies alles sind wertvolle Güter in einer Zeit und Welt, die unter emotionalen und solidarischen Entzugserscheinungen leidet. Und die daran zugrunde gehen kann, wenn in unseren Gesellschaften Solidarität als Grundwert und Handlungsmotiv nicht gegenwärtig und erfahrbar ist und bleibt.
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