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Dauerhaft Querbeziehungen

Gefilmte Familienfotos, verlorene Alte und weltoffene Polizisten: Die Prima-Film-Quote war auf dem Dokumentar-Festival in Leipzig besser als zur Berlinale – obwohl an allen Ecken Fördergelder fehlen

von DETLEF KUHLBRODT

Jedes Jahr beim Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm denkt man, dass es toll ist, Journalist zu sein: Im Hotel schlafen, tausend Filme gucken, zwischendurch Kaffee und reden – was will man mehr. Verglichen mit der Berlinale etwa, ist das Dokfilmfestival eher klein. So kommt es zwangsläufig immer wieder zu schönen Zufallsgesprächen, und außerdem lässt sich das 272-Filme-Programm in diesem Jahr auch halbwegs bewältigen. Diesmal, im schönsten Herbst, erinnerte Leipzig ein bisschen an Wien. Fünf Biber kuschelten sich im Zoo aneinander, und auch die Eröffnung im kleinen Saal des Gewandhauses verlief sehr harmonisch: Gezeigt wurde eine neu restaurierte Kopie des Stummfilmklassikers „Das Glück“.

Alexander Medwedkin, der dieses Jahr hundert geworden wäre, hatte sein 1934 gedrehtes didaktisches Märchen „dem letzten Taugenichts der Kolchose“ gewidmet. Zeitweise galt sein Meisterwerk als konterrevolutionär. Später entdeckte Chris Marker, der französische Nachkriegsdokumentarist, die „filmische Flaschenpost“ eher zufällig und war vor allem beeindruckt von dem Film-Zug, mit dem Medwedkin ein Jahr lang durchs Land fuhr und unzensiertes Material produzierte und zeigte. Von ähnlichen Dingen träumten linke Regisseure in den 60ern, in denen Marker Medwedkin beim Leipziger Dokfilmfest kennen lernte, während vor dem Kino die Dissidenten „krakeelten“. 1993 drehte Marker einen Film über „den letzten Bolschewiken“, der in Leipzig gezeigt wurde. In diesem Jahr entstand „Ein Tag im Leben des Andrej Arsenevic“, sein kluger Filmessay über den Russen Tarkowski, der aus seiner Heimat geekelt worden war. In einer Szene schickt der längst zum Filmfunktionär avancierte Medwedkin Tarkowski einen seltsam entschuldigenden, irgendwie rührend unzeitgemäßen Nachruf hinterher. Danach möchte man alle Tarkowski-Filme noch einmal gucken.

Ebenfalls in den 60er-Jahren in Leipzig traf Marker den später auch in Leipzig drangsalierten DDR-Dokumentaristen und späteren Maler Jürgen Böttcher, dem das Festival eine Retrospektive widmete sowie eine Goldene Taube für sein bisheriges Werk verlieh. Solche Querbeziehungen, die diesmal besonders auffällig waren, betonte Fred Gehler in seiner Eröffnungsrede. Der Festivalchef hatte dieses Jahr mit vielerlei Widrigkeiten zu kämpfen: Amüsant war noch, dass die Leipziger Volkszeitung den Beginn des Festivals einen Tag zu früh annonciert hatte. Schwerwiegender, dass das ehrwürdige „Capitol“, seit Menschengedenken Hauptschauplatz des Festivals, seine finanziellen Forderungen so hochgeschraubt hatte, dass die größte Leinwand und ein paar kleine wegfielen.

Ein noch größeres Problem ist die zunehmend mangelhafte Unterstützung, die das mutige Dokfilmgenre erfährt. Deshalb gab es so viele Videodokumentationen wie noch nie, was auf großen Leinwänden oft etwas enttäuschend ist. Die internationale Jury war beunruhigt „über das mangelnde Angebot an kreativen kurzen Dokumentarfilmen“, plädierte „dringend für eine bessere Unterstützung in der Finanzierung und Verbreitung im Kino wie im Fernsehen“ und verzichtete darauf, eine Goldene Taube für kurze Dokumentarfilme zu vergeben. Trotzdem war die Prima-Film-Quote besser als bei den Berliner Filmfestspielen.

Natürlich gab es großartige Filme, die nicht nur inhaltlich – wie einige eher konventionelle Faschismus- und Stalinismusgeschichten – interessant waren, sondern vor allem auch formal überzeugten, wie vor allem die sehr berührende Familiengeschichte „Meine Mutter hatte 14 Kinder“ des schwedischen Regisseurs Lars Lennart Forberg. 77 Minuten gibt es fast ausschließlich grandios inszenierte Familienfotos. Dafür gab’s eine Silberne Taube für lange Dokfilme. Die Goldene Taube gewann der chinesische Film „Die Alten“, der formvollendet zurückhaltend von Pensionären erzählt, die sich tagtäglich im vorstädtisch wirkenden Pekinger Qing-Ta-Viertel treffen und gemeinsam herumsitzen. Sie bringen ihre kleinen Klappstühle mit, und wenn einer mal nicht kommt, wird er wohl tot sein oder im Krankenhaus. Die junge Regisseurin Tian Yi Yang durfte nicht zum Festival anreisen, weil sie der Armee unterstellt ist. Ansonsten allerlei: Dem Subgenre Nochmalgeguckt sind „Die Gefangenen des Luis Buñuel“ zuzuordnen. Der holländische Regisseur Ramon Gieling hatte die westspanische Gegend noch einmal aufgesucht, von der Buñuel in seinem „Land ohne Brot“ von 1932 ein Elendsbild gezeichnet hatte.

Die Bewohner sind böse auf den groben Regisseur und werfen ihm krasse Verfälschungen vor. So hätte Buñuel für eine Sequenz, in der ein Esel von Bienen totgestochen wurde, den Esel mit Honig eingeschmiert. In ihrem DFFB-Abschlussfilm porträtierte Branwen Okapo den in Leipzig groß gewordenen Polizisten Sam Meffire, der Anfang der 90er-Jahre als Symbol für ein weltoffenes Sachsen herhielt, die zweifelhafte Freundschaft des sächsischen Ex-Innenministers Heinz Eggert genoss und seit 1996 wegen Raubüberfällen im Gefängnis sitzt. Der halbwaise Held hatte davon geträumt, Actionpolizist zu werden. Sein Vater sei möglicherweise von DDR-Kommilitonen vergiftet worden, erzählt die Mutter. Die unangenehmste Figur des Films ist ein Stern-Journalist, der für sein Okapo-Porträt einen hoch dotierten Preis gewonnen hatte. Den größten Beifall fand Rosa von Praunheims „Die glücklichen Opfer des Rainer Werner F.“, in dem Hanna Schygulla, Peer Raben, Irm Hermann und andere so offen wie noch nie über ihre irrsinnige Zeit mit dem Regiegenie sprechen.

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