Stichwort Siegfried

Die Kumpels halten bei Dosenbier Mahnwache. Die Bürger gehen zur Andacht

aus Freiberg THOMAS GERLACH

Knacks! Zügig drückt die Lasche die Blechzunge ins Dosenrund. „Prost!“ Bier ist billig und kalt und wärmt, fast wie Schnaps. Wirklich! Dieter weiß es. Am 7. Oktober zog der Freiberger in den Albertpark. Er besorgte Kerzen, Zigaretten und Bier, ging zum Pavillon, zündete Grablichter an und setzte sich. Seitdem wartet er unter dem geschwungenen Dach, in diesem Häuschen, das früher Liebeslaube hieß, zum Schlachthaus verkam und jetzt einem Kirchlein gleicht. Er wartet auf Antwort, auf die Beerdigung, und auf den Bürgermeister wartet er auch. „Du, entschuldige, ich muss mir noch’n Bier aufmachen. Willste auch eins?“ Knacks! Regent-Pils hilft. Die Kälte kommt durch die Sohlen, spaziert die Waden hinauf in die Knie. „Erzähl mal den Leuten, dass Bier hilft! Die schütteln den Kopf. Prost!“ Die Hände um die Dose machen das Bier warm und die Finger steif. Kerzen wärmen das Herz, nicht die Haut. Dieter lauscht in die Nacht, Autos donnern am Park vorbei, durch die Bäume schimmert das Licht aus der Polizeidirektion. „Prost!“ Der Saft macht die Stimme ruhig und den Mund gesprächig.

„Nee, ich versteh’ das nicht!“ Dieter blickt auf die Rosen und Alpenveilchen, auf die Astern, die Kränze, das Kreuz. Daran liegt es nicht, damit ist er einverstanden. Aber sonst? Warum wurden hier aus armen Schluckern Mörder und Ermordete? Warum haben die beiden Lehrlinge Christl in deren Wohnung begleitet und sie dort zerstochen wie man in ein Kissen oder einen Sack sticht, wenn man wütend ist? Sechs Treffer ins Herz. Dann kehrten sie um, den beiden Zeugen die Gesichter zu zerschlagen. Die da auf den Bänken schnarchten, wussten ja, mit wem Christl fort war. Warum hat denn die Polizei nichts gehört? Nur einer hat’s überstanden, Schädelbruch, liegt in Chemnitz.

Jetzt haben viele aus der knapp 50.000-Einwohner-Stadt am Rande des Erzgebirges die Scheu vor dem Pavillon und seinen Säufern verloren, die Verwirrung vor deren Leben ist weg, zumindest für Tage, vielleicht für Wochen. Sie erscheinen aus ihrer geordneten Welt mit Blumen in der Hand, Angestellte, Hausfrauen, Rentner, schütteln wieder den Kopf, diesmal betroffen, bringen Kerzen, sogar Geld. Die Kripo ließ zwei Dederon-Schlafsäcke hier, dünnfaserig und mit Blumen bedruckt, selbst Fernsehsender wurden weich. „ ,Spiegel-TV‘ hat uns hundert Mark gegeben, der MDR gab Geld für ’nen Kranz!“ Dieter ist trunken vor Rührung, notiert jede Summe, sammelt Quittungen. Fromm ordnet er die Sträuße, besorgt Wasser, kratzt Wachs aus den Bechern. Ein Kreuz haben sie gebaut, mit glühender Spitze „Siggi ~ 5. 10. 2000“ hineingeritzt und an den Pfosten genagelt.

Dieter beugt sich vor, schiebt die Lippen nach vorn, seine Augen glänzen. „Morgen können wir darüber reden, wieso das alles passiert ist und was mit der Beerdigung wird. Ob der Bürgermeister kommt?“ Die Lücken in Dieters Gebiss sind kaum zu sehen, zu hören sind sie gut. „Vielleicht wird auch Geld gesammelt, damit Siggi anständig unter die Erde kommt.“ Morgen also. In der Annenkapelle. Endlich. Dieter hat was zu sagen. In der Stadt hängen die Zettel aus, beim Bäcker, im Schaukasten: „Andacht aus Betroffenheit – klagen, fragen, bitten – statt Gewalt.“

„Psst!“ Dieter hält den Atem an, taucht sein Ohr in die Nacht. Schritte. Peter wankt aus dem Dunkel mit Hund an der Leine und Durst im Kopf, die langen Haare schaukeln wie Gardinen. Griff zur Dose, Knacks!, und trinkt. „Ich war der Letzte, der sie lebend gesehen hat.“ Schluckt. Dieter schweigt. „Nu sind se tot. Das bringt nix mehr. Jeder verliert irgendwann irgendjemanden. Musste vergessen.“ Schluckt. „Vergessen?“ Dieter braust auf. „Niemals! Nichts wird vergessen. Alles andere bringt keine Punkte!“ Ob Punkte oder nicht, Peter kann nicht diskutieren, er ist schwerhörig. Dose auf den Müll, Kippe in den Park, Hund an der Leine. Peter geht. Seine Trauerfeier ist für heute vorbei, die Schritte verhallen.

Wo schläft Peter? „Vielleicht am Tierpark. Oder in ’nem Abrisshaus, oder bei Freunden.“ Und im Heim? „Nee! Da geh mal hin! Abgewiesen wirste!“ Dieter wird laut. „Hab’ selbst ’n Vierteljahr da gewohnt. Zwölf Mann im Zimmer. Dann musste noch bezahlen, fünf Mark. Nee. Wenn de was gesoffen hast, lassen se dich nicht rein.“ Dieter lacht kurz auf. „Was willste denn machen den ganzen Tag? Du läufst durch die Stadt, Bier ist billig und abends haste ’ne Fahne. Alkoholismus ist doch auch ’ne Krankheit?“ Dieter hat eine Wohnung, jetzt hält er Nachtwache. Er macht eine Bewegung als ob er einen Tisch leerfegt. „Wenn hier keiner ist, können die Kerle doch die ganzen Sachen abräumen.“

Die Kerle: Halbstarke, die in Kneipen hocken oder auf Bänken und die vor sich haben, was Dieter hinter sich hat. Arbeit, Entlassung, wieder Arbeit, wieder Entlassung, Schulden, Freundin weg, Wohnung weg, Suppenküche, Kleiderkammer, Obdachlosenheim. Nichts geht mehr, nur das Bier fließt noch, oder Härteres. Zwei von ihnen sitzen jetzt hinter Gittern. Dieter bohrt im Wachs. Irgendwie passt er hier nicht rein: der weiße Rolli, die Lederjacke, die geflochtenen Schuhe, die vom Wasser dunkel sind. Knacks!, noch’n Bier. Die Lichter flackern, der Mond scheint durchs Laub. Eigentlich fehlt jetzt Musik. „Na ja, Konzert wär’ nicht schlecht. Der Mozart oder Schubert. Ich lieb’ die Klassik. Jetzt die ,Kleine Nachtmusik‘.“ Dieter fängt an zu nicken. „Ja, das würde passen.“

Mittagszeit, nüchterne Zeit. Zwei Steinwürfe vom Pavillon sitzt Gunter Fischer im Büro. „Es fehlt nur noch, dass die vom Häusel erzählen, ich hätte im Keller eine Folterkammer eingerichtet.“ Als er Häusel sagt, weist er mit der Hand durch die Gardine. Da irgendwo steht der Pavillon, das Häusel. Gunter Fischer trägt freundliche Falten im Gesicht, nur die Wangen hängen etwas. Der Leiter des Freiberger Obdachlosenheimes ahnt es. Jeder, der da im Häusel sitzt, ist eine Anklage gegen sein Haus. Gerade jetzt, nach den Toten, gerade jetzt, da Angriffe auf Obdachlose im Gespräch sind. „Jetzt wird’s ganz gefährlich, was ich sage.“ Wie ein Magier spreizt er die Finger ab, legt sie auf die Tischplatte. „Ich habe das in diesem Sommer häufiger beobachtet: Schrammen, blaue Augen, Schorf im Gesicht, bei den Leuten, die ins Heim kommen oder in die Suppenküche.“ Die Finger arbeiten. „Na ja, dann sagen sie mir, die Jugendlichen haben geschlagen.“ Nein, zu Anzeigen komme es nicht. Die wollen keine Polizei. „Ich kann niemanden zwingen. Na ja, das lässt sich alles nicht beweisen.“ Fischers Falten werden tief. „Aber es scheint doch so.“

Penner sind unbrauchbar wie leere Bierdosen, die in Parks und auf Plätzen herumliegen und das Stadtbild verderben. Blech, das aufregt, Provokation und Blitzableiter gleichermaßen. Die einen sammeln sie auf, die anderen zertreten sie, wenn ihnen danach ist. Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einer Dose? Springerstiefel treffen beide. Die Freiberger Täter zählt die Polizei nicht zum rechtsradikalen Milieu, offenbar fehlten die Accessoires. Die Laune, zweieinhalb Penner zu zertreten, fehlte nicht. Die Bürger Freibergs hingegen haben jetzt ihre Liebe für Obdachlose entdeckt. Wenn sie artig sind und nicht stinken.

Nein, Gunter Fischer hat keine Folterkammer in seiner grauen Villa, doch auch keine Ausnüchterungszelle. Er hat Zimmer, Duschen, Küche, Heizkörper. Und er hat eine Hausordnung mit Schließ- und Ruhezeiten – Signale einer Welt, die viele im Häusel, aus dem Tierpark und aus den Abrisshäusern hinter sich gelassen haben. 25 wohnen hier, Betten gibt es noch genug. 50 Obdachlose schätzt Fischer in Freiberg. Über 150 sind es, sagen andere.

Abendstunde, Klagestunde. Glocken dröhnen über der Stadt. Sie kommen, über hundert: Rentner, Hausfrauen, Schulkinder, ein Maurer, Herr Fischer, der Suchtberater, das Fernsehen. Dieter wartet, entzündet Kerzen. Und ist spitz: „Na, Herr Pfarrer, haben Sie schon den roten Teppich für den Oberbürgermeister ausgerollt?“ Pastorales Unverständnis. Er blickt auf Dieter. „Der Bürgermeister war bis jetzt nicht im Park!“ – „Man kann doch auch woanders gedenken?“ Pfarrer sind routiniert, Jesus hat auch zurückgefragt. Der Oberbürgermeister erscheint, Wildlederjacke, blitzende Brille, silbriges Haar. Dieter hält Abstand.

Der Pfarrer trägt einen blütenweißen Talar. „Was geschehen ist, macht ratlos.“ Drehung nach links, Drehung nach rechts. „Wir bringen unsere Betroffenheit vor Gott.“ Schwerfällige Trauerpirouetten, dort ein Lied, hier ein Psalm. Siegfried und Christl bleiben Schatten im Gewölbe, ihre Namen nennt der Seelentröster nicht. „Darf ich mal was fragen?“ Dieter ist aufgestanden. „Dafür ist jetzt nicht der richtige Ort“, spricht’s aus dem Talar. „Wann denn? Müssen erst wieder zwei sterben?“ Der weiße Rock wendet sich ab. „So, ich teil das jetzt mal aus.“ Wer will, kann auf Zettel Klagen notieren und dem Altar übergeben. Die Orgel setzt ein, Dieter rennt raus. Und dort brüllt er los. Brüllt und brüllt und rudert mit den Armen, dass es die Musik übertönt und die da drinnen die Köpfe einziehen. Dieter schnappt Blumen und Kerzen, Wachs klebt auf Kinn und Kragen wie Schaum. Durchatmen! Er bleibt und wartet.

„Sie müssen sich kundig machen, was eine Andacht ist! Das ist Besinnung.“ Gunter Fischer redet auf Dieter ein. „Klagen, fragen, bitten – was ist denn das?“ Dieter ist fassungslos. Dieselben Wörter, zwei Sprachen, dieselbe Stadt, zwei Welten. Und jetzt geht der oberste Bürger Freibergs freundlich wie ein Onkel auf Dieter zu: „Wenn das Ihr Wunsch ist, dann werde ich mich sehen lassen.“ Sie könnten einander auf die Füße treten, in die Quere geraten sie sich nicht.

Die Kollekte ist für Suchtkranke. „So ’n Quatsch!“ Dieter geht zu seinem Kirchlein. Die ratlosen Helfer bleiben zurück, reden. Von Konzeption, Versorgungsauftrag, Zuständigkeit, Gesprächsforum. Worte steigen auf wie Nebel. Jetzt ist Dieter am Pavillon, die Kerzen flackern. Knacks! Und Kopfschütteln. Die Caritas wird ein Spendenkonto eröffnen, Stichwort: Siegfried.

Zitat:HEIMLEITER GUNTER FISCHER:„Ich habe das in diesem Sommer häufiger beobachtet: Schrammen, blaue Augen, Schorf im Gesicht.“