: „Ich setz mich gern an die Kreuzung“
Das Adlergestell ist die längste Straße Berlins. Zwölf Kilometer Asphalt führen von Treptow nach Osten in den Berliner Stadtforst. Wer hier hält, will so schnell wie möglich wieder weg. Einige wenige sind gestrandet
von JAN BRANDT
Die Straße hat keinen Anfang, aber ein Ende. Vielleicht beginnt sie dort, wo die S-Bahn die Straße kreuzt, kurz hinter Schöneweide, und die Grünauer Straße ins Adlergestell übergeht. Das erste Haus hat die Nummer 73, ein Umspannwerk der Deutschen Bahn. Sie könnte aber schon eher beginnen, bei Burger King etwa oder gegenüber an der evangelischen Friedenskirche, die dunkel zwischen den Bäumen emporragt. In einem Schaukasten ist der Spruch des Monats zu lesen: „Fragt nach dem Weg der Vorzeit, welches der gute Weg sei und wandelt darin, so werdet ihr Ruhe finden.“ (Jer. 6,16)
Zunächst ist es alles andere als ruhig. 50.000 Autos schieben sich täglich an der Kirche vorbei. Auf sechs Spuren fahren die Pendler morgens in die Stadt und abends wieder zurück. Für die meisten ist das Adlergestell nichts weiter als ein Autobahnzubringer im Südosten Berlins, eine kurze lästige Station auf dem Weg zur Arbeit, in den Urlaub, nach Hause.
Das Adlergestell ist mit zwölf Kilometern die längste Straße Berlins und zugleich die Flüchtigste und Unverbindlichste. Bei Radarkontrollen wurden Spitzenwerte von 134 Stundenkilometern gemessen, obwohl nur Tempo 70 erlaubt ist. Schnurgerade zieht sich die Straße bis zur Autobahnabfahrt Richtung Dresden und zum Flughafen Schönefeld. Rechts und links der Straße stehen alte und neue Fabrikanlagen, Baumärkte, Autohäuser und Imbissketten. Auf einer der vielen Werbetafeln steht „McDonald’s, Durchhalten, noch 3.000 Meter“.
Fabriken, Baumärkeund Imbissketten
Wo sich heute eine Tankstelle an die andere reiht, standen einst Stangen mit dem brandenburgischen Adler, die der Straße den Namen gaben. Auf einer Karte von 1766 heißt der Weg „Haupt Stell“, auf einer von 1780 „Adler Stall“, und erst ab 1869 heißt sie Adlergestell. Gut möglich, dass sie einmal Tankstell heißen wird, denn auf wenigen Kilometern ist inzwischen jede Marke vertreten. Die Benzinpreise sind fast überall gleich, ebenso wie die funktionale Einheitsarchitektur. Wer hier hält, will so schnell wie möglich wieder weg. Deshalb setzen die Konzerne auf Service und Angebot. Die Läden sind zu Einkaufszentren mutiert, in denen es Bücher und Bier, Windeln und Baguette zu kaufen gibt. Nebenbei auch Treibstoff.
Seit der Wende ist die Straße mehrfach ausgebessert worden, und schon wieder haben sich tiefe Spurrillen in den weichen Belag gefressen. Klobige Maschinen fahren über den Asphalt, wie Mähdrescher bei der Ernte, und werfen Teerbrocken auf Lastwagen. Autofahrer fluchen, im Schritttempo schieben sie sich an der Baustelle vorbei, von einer Ampel zur nächsten, dazwischen wird kräftig Gas gegeben.
Bis zu 75 Dezibel werden hier gemessen. Die Anwohner haben Schallschutzfenster, aber wer hier lebt, der hört den Lärm nicht mehr. Wie die Eigentümer der Kleingartenanlagen, die eingezwängt zwischen Straße und S-Bahn-Linie liegen. Sie sitzen auf Plastikstühlen unter weißen Plastikpavillons und trinken Dosenbier. Ab und zu stehen sie auf und sprengen den Rasen oder das Gemüsebeet.
Eine Frau sitzt am Straßenrand auf einer Matratze und raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Sie trägt ein graues T-Shirt mit der Aufschrift „Alle doof außer mich“. Die Matratze hat sie von einem Bekannten. Was sie damit vorhat, sagt sie nicht: „Dat is meine Angelegenheit.“ Jetzt wartet sie auf jemanden, der sie mitnimmt, und schaut den vorbeifahrenden Autos nach. Fragt man sie nach dem Weg der Vorzeit, sagt sie: „Das Adlergestell muss da irgendwo sein, bei McDonald’s.“
Ein paar Meter weiter sitzen zwei Männer auf Klappstühlen und zählen Fahrradfahrer. „Wir machen das für ganz Treptow“, sagt der eine, der Günther Guttmann heißt. Vielleicht soll hier ein Fahrradweg gebaut werden. Genau wissen sie nicht, was sie tun und wofür. Der Verein Agens e.V. hat sie als ABM-Kräfte eingestellt, jetzt grasen sie täglich sechs Stunden lang Stadtbezirk für Stadtbezirk ab.
„Ist nur ein Job“, sagt Guttmann. „Ich setz mich gern an die Kreuzung, besser als Unkraut jäten.“ Zum Glück muss er die Autos nicht zählen. „Am liebsten würde ich die Busse zählen“, sagt er, „dann müsste ich nur die Fahrpläne abschreiben.“ Nicht einmal, wie viele es am Ende eines Tages sind, weiß er. Die beiden machen nur die Striche. Es werden sogar Fahrradfahrer eingetragen, die auf der falschen Seite fahren. „Und du“, sagt Guttmann, „du musst jetzt weiterfahren, dich hab ick och schon uffjeschrieben.“
Gegenüber gibt es Gartenstatuen zu „Schnupperpreisen“. Bernd Reck steht vor einer Wellblechbude mit vergitterten Fenstern. Auf Reporter ist er nicht gut zu sprechen. Neulich war jemand von der FAZ da, und der hat seine Figuren als Kitsch bezeichnet. „Wenn ich den erwische, der kann sich warm anziehen“, sagt er. Er verkauft keinen Kitsch, sondern Träume aus Stein. Blumenkübel, Balustraden, Brunnen und Figuren aus der antiken Mythologie stehen verstreut auf dem Gelände. Weibliche Akte werden vor allem von Männern gekauft, erklärt Reck. „Alte mögen’s nicht so gern, wenn die Figuren nackt sind, und bevorzugen das keusche und züchtige Blumenmädchen.“ Ihm ist eine Tochter des Zeus am liebsten, ein Symbol der ewigen Jugend, nackt und weiß. Vielleicht, weil er selbst mit seinen 55 Jahren nicht mehr der Jüngste ist und ihm die Straße auf die Nerven geht: „Wenn man hier den ganzen Tag arbeitet, wird man noch taub.“
Dort, wo sich die Straße teilt, wird es ruhiger. Die einen fahren weiter zur Autobahn, die anderen nach Grünau oder Schmöckwitz. Kiefern säumen zu beiden Seiten den Weg, Wurzeln unterwandern den Asphalt. Auf den nächsten Kilometern führt das Adlergestell durch den Berliner Stadtforst. Das Forsthaus liegt mitten im Wald direkt an der Straße. Neben der Eingangstür steht ein Wildschwein aus Holz. Auch im Arbeitszimmer von Gert Meuche, Revierförster von Schmöckwitz, ist der Wald allgegenwärtig: An der Wand hängen Geweihe und ausgestopfte Tiere, Bilder von Bäumen und Alleen, und auf dem Aktenschrank liegt ein großer Tannenzapfen.
Gert Meuche sitzt in einem schweren Sessel an einem Schreibtisch mit Lederbezug und trägt seine Uniform, einen dunkelgrünen Pullunder und ein hellgrünes Hemd. Er ordnet die Zettel neu, schichtet zwei Zehnpfennigstücke übereinander und schlägt ein Buch auf: „Sie waren am 29. 8 um 15.06 auf meinem Anrufbeantworter, und wie Sie sehen, habe ich den Eintrag noch nicht durchgestrichen.“
Vierhundert Autoreifen im Wald entsorgt
Und dann erzählt er von der Straße, die den Wald durchschneidet, von Schwarz- und Rehwild, von den Unfällen und davon, dass höchstens 70 Stundenkilometer gefahren werden dürfen. Einmal hat er einen Antrag gestellt, die Geschwindigkeit zu verringern, um die Unfallgefahr zu mindern. Aber die Polizei hat den Antrag abgelehnt, weil die „Durchlassfähigkeit“ gewährleistet werden müsse. Er hat versucht, die Tiere von der Straße fern zu halten, hat Baumarten gepflanzt, die Wildschweine und Rehe nicht anlocken, und chemische Duftstoffe ausgelegt, die abschreckend wirken sollten. Vergebens. Die Autofahrer nehmen auch keine Rücksicht. Und überhaupt: „Die Leute haben die Verbindung zur Natur verloren.“
„Viele Leute glauben, Förster haben ein ruhiges Leben“, sagt Gert Meuche. „Aber montags im Wald, da steigt mein Adrenalinspiegel. Und das ist die andere böse Sache, die mit der Straße zusammenhängt.“ Jeden Montag nämlich fährt Meuche mit seinen Mitarbeitern die Straße ab und sammelt den Müll ein, den die Wochenendausflügler abladen: Kühlschränke; Fernseher und Farbreste sind darunter. Einmal hat sogar jemand vierhundert Autoreifen im Wald entsorgt, aber den hat er erwischt. Bei diesem Thema wird der sonst eher ruhige Oberförster richtig wütend. Vor der Wende sei es anders gewesen, aber heute mache ja jeder, was er will. Er schaut auf die Uhr, seine Sprechstunde ist gleich zu Ende, dann nimmt er sein Notizbuch und sagt: „Jetzt streiche ich Ihren Namen durch, und damit ist die Sache erledigt.“
Geschwindigkeit drosseln
Unmittelbar vor seinem Haus kam es vor vier Jahren zu einem schweren Verkehrsunfall, bei dem der zweifache Ruderweltmeister Stephan Brehmer ums Leben kam. Sein Beifahrer Jens Schuster überlebte schwer verletzt. In dem Auto, das sie mit 120 km/h überholt hatten, saß eine Ärztin, die erste Hilfe leistete. Nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt ging Jens Schuster wieder zur Schule. „Das war die beste Entscheidung, die meine Mutter mir aufgedrückt hat“, sagt Jens Schuster heute. Die Folgen des Unfalls sind dem 22-Jährigen kaum anzumerken.
„Beim Sprechen nuschel ich manchmal“, sagt er mit klarer, weicher Stimme, und erzählt, was für eine Bedeutung der Sport in seinem Leben hatte. Dass er den ganzen Tag nichts anderes gemacht hat und nach der Schule auf dem nahe gelegenen Langen See gerudert ist und danach mit Freunden noch Fußball gespielt hat. So war es auch an jenem kühlen Frühlingsabend im April 1996 geplant gewesen. Sie waren spät dran, als Stephan Brehmer feststellte, dass er noch tanken musste.
Jens Schuster macht seinem Freund und Teamkollegen keine Vorwürfe. „Er war mein Vorbild“, sagt er, „und es war ein Traum von uns beiden, dieses Jahr nach Sydney zu fahren.“ Danach hat sich Schusters Leben sehr verändert. „Mein Vater sagte damals, neun Jahre Training für diesen Unfall. Aber ich habe gelernt, zu kämpfen. Einen Sportler kriegt man nicht klein.“ Er hat sein Abitur gemacht und eine Ausbildung zum Hotelfachmann. An der rechten Hand trägt er einen Ring. „Ein Freundschaftsring“, sagt Jens, „vorher hatte ich ja keine Zeit für eine Freundin.“ Er denkt nicht mehr oft an den Unfall, aber wenn er übers Adlergestell fährt und an der Stelle vorbeikommt, wo es passierte, drosselt er automatisch die Geschwindigkeit. Er sagt: „Kommen Sie gut nach Hause.“
In Schmöckwitz endet das Adlergestell. Das letzte Haus hat die Nummer 786, ein Bootshaus. Der Asphalt geht in Kopfsteinpflaster über. Eine Tram fährt um einen Platz, in der Mitte steht ein Baum. An der Endstation gibt es ein kleines Bistro, „Linie 68“. Das Schild am Eingang trägt die Farben der Nationalflagge: Schwarz-Rot-Gold. Szana, die Verkäuferin, hat schon fast alles abgeräumt. Ein Gast bestellt noch eine Pommes. „Wir haben doch eine andere Lebensvorstellung gehabt“, sagt er, und sie sagt: „Ja, man wollte was werden.“ Dann sind die Pommes fertig und Szana schließt die Tür. Feierabend.
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