: Nur noch fünf Grüne in Europa
Nach Ozan Ceyhun verlässt jetzt auch Wolfgang Kreissl-Dörfler die grüne Fraktion im Europäischen Parlament und geht zur SPD. Was mit Ilka Schröder passiert, ist unklar
BRÜSSEL taz ■ Erneut ist mit dem bayerischen Europaabgeordneten Wolfgang Kreissl-Dörfler ein Mitglied der Grünen-Fraktion ausgeschieden und zur SPD gewechselt. Dies teilten die bayerischen Grünen-Landesvorsitzenden Jerzy Montag und Margarete Bause gestern mit. Damit gibt es jetzt nur noch fünf deutsche Grüne in Straßburg.
Wer nun Aufschreie, Schuldzuweisungen, großes Drama erwartet, wird enttäuscht. Als vergangene Woche bereits der grüne Abgeordnete Ozan Ceyhun seinen Übertritt zur SPD bekannt gab, hatten die verbliebenen sechs deutschen Grünen merkwürdig gedämpft reagiert. Seit Herbst bereits verhandle Ceyhun mit der SPD? Kein schöner Zug von ihm. In seinem Streit mit Ilka Schröder habe er Unterstützung erwartet? Mit der müsste er doch wohl selber fertig werden.
Nur Heide Rühle, die seit Juni ihre ganze politische Routine und Erfahrung mit grünen Strukturen aufbietet, um mit diesem Häuflein von Individualisten so etwas wie grüne Europapolitik zu Stande zu bringen, tat den Fall Ceyhun nicht mit einem Achselzucken ab: „Wenn wir uns fragen, wie das passieren konnte, müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.“
Nun passiert „das“ schon zum zweiten Mal. Noch am Samstag hatte Rühle Berichte zurückgewiesen, die über Fluchtgedanken Kreissl-Dörflers spekulierten. Enge Mitarbeiter aus seinem bayrischen Umfeld berichteten dagegen, er wirke seit Wochen gedrückt und unentschlossen, quäle sich schon länger mit der Entscheidung herum.
Tatsächlich nahm das Desaster der europäischen Grünen seinen Anfang im März 1999 in Erfurt. Damals brachte die Tagesform der Redner und die Stimmung im Saal der Bundesdelegiertenkonferenz eine Liste für die Europawahl zustande, über die sich viele die Haare rauften. Auf den aussichtsreichen fünften Platz hoben die Delegierten Ilka Schröder, 21 Jahre junge Touristik-Studentin, die sich, wie Teilnehmer berichteten, „super-jugendlich verkauft“ habe.
Die Pressemitteilungen der jungen Sponti-Frau haben die Berliner Parteiführung inzwischen das Fürchten gelehrt. Ob sie EU-Mittel für Schleuserbanden fordert oder – unter dem Titel „Schily con Ceyhun“ – den Weggang von Herrn Ceyhun als „humanitäre Aktion“ charakterisiert: Die manchmal witzigen, oft um die Ecke gedachten, gelegentlich auch geschmacklosen Bemerkungen sorgen vor allem für Verwirrung bei den eigenen Parteifreunden. Grünen-Chefin Renate Künast kündigte Anfang der Woche erstmals „Konsequenzen“ an. Was sie damit genau meinte, war bis gestern offen.
„Vielleicht sorgt der Schock ja dafür, dass wir in Zukunft genauer überlegen, wie wir unsere Listen aufstellen“, sagt ein grüner Mitarbeiter in Brüssel ohne Überzeugung. Seit Monaten schon gehe jeder politisch seiner eigenen Wege, auch Heide Rühle habe es nicht geschafft, Strukturen einzuführen, die die deutsche Delegation gegenüber Berlin präsenter machen würden.
Seine Hilfeschreie habe in der Partei niemand hören wollen, hatte Ceyhun vergangene Woche geklagt. Am selben Tag kam Renate Künast zum Antrittsbesuch nach Brüssel. Da aber war es für Schadensbegrenzung schon zu spät. DANIELA WEINGÄRTNER
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