: „Eine Fliege ist kein Mensch“
Der russische Biologe Timoféeff-Ressovsky gilt als einer der Mitbegründer der Molekularbiologie. Er arbeitete von 1926 bis 1945 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch
von RICHARD RABENSAAT
Der Biologe Nikolai Wladimirovich Timoféeff-Ressovsky legte mit seiner Forschung im Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Buch (jetzt Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin) einen der Grundsteine der modernen Molekularbiologie. Am 19. September 1900 wurde er in Russland geboren. Seine von 1925 bis 1945 betriebenen Forschungen an Käfern und der Taufliege Drosophila melanogaster waren einer der Ausgangspunkte für die Etablierung der neuen Forschungsrichtung. Auch heute werden entscheidende Erkenntnisse von der Beobachtung der Drosophila erwartet, wenn es darum geht, das menschliche Genom zu verstehen. „Die Vererbungsgesetze sind für Taufliegen die gleichen wie für Elefanten“, erkannte schon 1925 Nikolai Viktorowitsch Lutschnik, einer von Timoféeffs Schülern.
1917 begann Timoféeff-Ressovsky ein Studium der Zoologie, Naturwissenschaften und Kunstwissenschaften, war aber gezwungen, dieses aufgrund des Bürgerkrieges zu unterbrechen. Nachdem er kurze Zeit mit Anarchisten umhergezogen war, kämpft er mit auf Seiten der Roten Armee. 1922 setzte er seine Studien an der Moskauer Universität bei Tschetwerikow, einem der Gründerväter der Populationsgenetik, und dem Zoologen Kolzow fort. Schnell erwarb er sich dort die Wertschätzung seiner Lehrer. Daher schlug Kolzow den talentierten Ressovsky vor, als ihn der Neuropathologe Oskar Vogt bat, ihm einen talentierten Wissenschaftler für den Aufbau einer Abteilung für Genetik und Biophysik an seinem Berliner Institut zu empfehlen.
Zwar hatte er sein Studium zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, aber unmittelbar nach dem russischen Bürgerkrieg waren Auszeichnungen und Titel nicht wichtig. In Berlin-Buch begannTimoféeff-Ressovskys produktivste Zeit. Von 1926 bis 1946 zeichnete er als Autor oder Co-Autor von über hundert Arbeiten verantwortlich. Er begann die Mutationswirkung von Röntgenstrahlen auf die Taufliege zu untersuchen und formulierte die „Treffertheorie“. Diese besagt, dass durch den Beschuss mit ionisierenden Strahlen die Elektronenhülle von Molekülverbänden zerstört wird. Das verursacht den Verlust der biologischen Eigenschaften der Moleküle und durch Veränderungen im Genmaterial auch Mutationen.
Was Timoféeff-Ressovsky hier für die Taufliege nachwies, bestätigte sich später grausam in Hiroshima. Dennoch lehnte er es stets ab, Schlussfolgerungen von seiner Forschung auf den Menschen zu ziehen. „Ein Fliege ist kein Mensch und hat keine Seele“, war sein Argument.
1935 verfasste Timoféeff-Ressovsky zusammen mit Karl G. Zimmer und Max Delbrück die Schrift „Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur“, die unter der Bezeichnung „Dreimännerwerk“ einen Meilenstein hin zu der Entwicklung einer eigenständigen Molekularbiologie darstellte. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit existierten zwar bereits zahlreiche Genkarten, auf denen beispielsweise hunderte Gene der Fliege Drosophila verzeichnet waren. Was aber genau das Gen darstellte, wusste niemand. Aus den Beobachtungen, welche die Forscher an den Fliegen nach der ionisierenden Bestrahlung angestellt hatten, schlossen sie auf die Natur des Gens. Sie folgerten, dass die Zelle ein besonderes Teilchen enthalten müsse, dessen Bestrahlung zur Mutation führt. Daher müsse auch das Gen eine materielle Struktur haben.
Mit der geschätzten Größenordnung der Gene schlugen die „drei Männer“ eine Brücke zwischen der klassischen Genetik und der – 1953 mit der Entdeckung der Doppelhelix durch Watson und Crick eingeleiteten – Molekulargenetik. Die Zeit in Buch wurde jedoch überschattet von dem heraufdämmernden Nationalsozialismus. Eine medizinische Abteilung in Buch untersuchte die Hirnpräparate von Euthanasie-Opfern aus der psychiatrischen Anstalt Brandenburg-Görden. Das berührte zwar nicht Timoféeff-Ressovskys Arbeit. Aber als er 1937 aufgefordert wurde, nach Russland zurückzukehren, musste er Stellung beziehen. Obwohl er durchaus mit dem Gedanken spielte, Deutschland wieder zu verlassen, lehnte er dies letztlich ab. Einerseits wollte er seine Arbeit und die von ihm abhängigen Mitarbeiter nicht im Stich lassen. Andererseits wurde zu dieser Zeit bekannt, dass Ressovskys Bruder in Russland erschossen worden war. Sein ehemaliger Lehrer Kolzow erklärte unmissverständlich, Ressovsky „solle sich doch gleich Fahrkarten bis nach Sibirien kaufen, wenn er zurückkäme“.
In Russland breitete sich zu dieser Zeit das Lyssenkotum aus. Trofim Denissowitsch Lyssenko war Direktor des Moskauer Akademie-Instituts für Genetik und Mitbegründer der Agrarbiologie. Er lehnte die damals neue Genetik rundweg ab, da sie nach seiner Ansicht nicht mit dem offiziellen Marxismus-Leninismus in Übereinstimmung zu bringen war. Stattdessen lehrte er die Vererbung erworbener Eigenschaften. Gene und Chromosomen existierten für ihn nicht.
Timoféeff-Ressovskys ältester Sohn, der 1923 geborene Dimitrij, genannt Foma, schloss sich während des Krieges einer Widerstandgruppe an und fiel 1943 in die Hände der Gestapo. Obwohl sich hochrangige deutsche Wissenschaftler für ihn einsetzten, wurde er 1945 im Konzentrationslager Mauthausen umgebracht. Ihm wurde vorgeworfen, französische Flieger versteckt und russischen Kriegsgefangenen in Lagern geholfen zu haben. Timoféeff-Ressovsky ahnte allenfalls etwas von den Aktivitäten seines Sohnes.
Nach dem Krieg befand sich das Institut in Buch in völliger Auflösung. Einer spontanen Eingebung folgend gab sich Ressovsky selber den Titel „Institutsdirektor“ und wurde als solcher auch vom Stellvertreter des Volkskommissars für Inneres, Sawenjagin, bestätigt. So konnte Timoféeff-Ressovsky Plünderungen des Forschungszentrums verhindern. Zu dieser Zeit wurde er ebenfalls zum Bürgermeister von Buch eingesetzt. Das schützte ihn jedoch nicht vor der Verhaftung und der Verschleppung in die UdSSR. Dort machte das Sowjetregime kurzen Prozess mit ihm, weil er 1937 nicht der Aufforderung zurückzukehren gefolgt war. Zehn Jahre Lagerhaft sollten die Quittung sein.
Nach seiner Verurteilung allerdings erinnerte sich auch der Geheimdienst NKWD der Kenntnisse Timoféeff-Ressovskys als Strahlenforscher und bemühte sich, seiner habhaft zu werden. Trotzdem dauerte es fast ein Jahr, bis er in einem Lager in Nordkasachstan ausfindig gemacht werden konnte.
„Er war dem Tod nahe. Die Barackengefährten schleppten ihn zur Arbeit mit in die Baugrube, setzten ihn dort an die Wand und er sang. Das war das Einzige, wozu er noch die Kraft hatte“, schreibt Daniel Granin in seiner Ressovsky-Biographie „Sie nannten ihn Ur“. Als er sich wieder einigermaßen aufgerappelt hatte, schickte man ihn in ein gefängnisartiges Forschungslager im Ural. Dort forschte er über die Wirkung radioaktiver Strahlen in Ökosystemen. Mit Stalins Tod im Jahre 1953 setzte zwar in der UdSSR immer noch kein regelrechtes Tauwetter ein, aber zuvor unschuldig Verurteilte wurden teilweise rehabilitiert. So bekam Timoféeff-Ressovsky 1955 eine leitende Position in der Abteilung für Radiobiologie und Biophysik des Instituts für Biologie der Ural-Filiale der Akademie der Wissenschaften in Miassowo nahe Swerdlowsk. Seine Ernennung wurde allerdings dadurch erschwert, dass er immer noch keinerlei akademischen Grad vorzuweisen hatte. Letztlich verfasste er doch noch eine Doktorarbeit und wurde 1966, nach dem Fall Lyssenkos, auch zum ordentlichen Professor ernannt.
Ab 1964 leitete er in der „geschlossenen Stadt“ Obninsk nahe Moskau eine Abteilung der Wissenschaftsakademie. Vier Jahre später wurde Ressovsky aus politischen Gründen entlassen. Erst zehn Jahre nach seinem Tod, am 16. Oktober 1991, wurde er offiziell rehabilitiert.
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