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Verhaltener Optimismus

In Russland soll ein einheitlicher, rekordverdächtig niedriger Steuersatz die Wende für den Staatshaushalt bringen. Es bleiben aber noch allerhand Probleme – wie die 15 Millionen Staatsdiener und eine ohnmächtige Justiz. Kaufkraft im Weltvergleich gut

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

„Dreizehn Prozent? So viel ist mir ein ruhiger Schlaf wert“, meint Lena Dementjewa, die Managerin eines großen Moskauer Möbelhauses. Ihre Erleichterung ist nicht gespielt. Der Schatten eines unbarmherzigen Steuerinspektors hatte sie seit langem verfolgt. Ab Januar tritt in Russland ein neues Abgabengesetz in Kraft, das alle Bürger einheitlich mit dreizehn Prozent besteuert. Der weltweit niedrigste Einkommensteuersatz soll aus notorischen Steuersündern brave Steuerzahler machen. Das pädagogische Konzept scheint zunächst auch aufzugehen. Wie Lena Dementjewa sind viele bereit, einen vertretbaren Obulus zu leisten.

Bislang wurde geschröpft, wer ehrlich war. Bis zu hundert Prozent strich der Fiskus ein, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. „Dank unserer Gesetzgebung“, gesteht ein Beamter, „wird jeder zum Sünder, wenn wir es für nötig halten.“ So drängte der bettelarme Staat Bürger in die Illegalität.

Damit sollte Schluss sein, als Wladimir Putin im Sommer den ersten Teil der Steuerreform durch beide Kammern des Parlaments boxte. Im Herbst ist ein zweiter Streich geplant: Die Umsatzsteuer soll von vier auf ein Prozent gesenkt und die Abgabenlast der Unternehmen verringert werden. Doch Vizepremier Ilja Klebanow schürte sogleich Zweifel. Kurz nach Novellierung des Steuerkodex verkündete er, der niedrige Abgabensatz sei nur „provisorisch“.

Auf jeden Fall gilt: Erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Kreml wieder mehr zu verteilen. Die Rahmendaten sehen so gut aus wie nie zuvor. Regierungschef Michail Kasjanow erwartet ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in diesem Jahr von über fünf Prozent. Gold und Devisenreserven der Zentralbank sind gar seit Anfang des Jahres um elf auf 23 Milliarden US-Dollar gestiegen. Und Russlands Außenhandelsbilanz im ersten Halbjahr 2000 weist einen Rekordüberschuss von 27,5 Milliarden US-Dollar auf.

Moskau bedient sogar wieder regelmäßig seine Schulden. Der Geldfluss aus dem Osten stimulierte den Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Horst Köhler, im September gar zu kühnen Elogen: Russland sei eine Großmacht, die es nicht verdiene, ständig gemaßregelt zu werden. Seit dem Rubelsturz vor zwei Jahren hätte Moskau acht von zwanzig Milliarden Dollar zurückgezahlt.

Solche Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen: Gilt beispielsweise der Außenhandelsüberschuss gewöhnlich als ein Indikator, der den relativen Wohlstand eines Staates ausweist, basiert die positive russische Bilanz laut Experten hauptsächlich auf dem dreifach gestiegenen Rohölpreis und der nur schwach anziehenden privaten Nachfrage seit der Rubelkrise. Darüber hinaus beschönigt die anhaltende Kapitalflucht die Außenbilanzen. Paradox: Gerade der Aufschwung veranlasste das Kapital, noch schneller und in größerem Umfang das Weite zu suchen.

Solange Wladimir Putin sein Versprechen nicht einlöst, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und das ineffiziente Justizwesen aufzuforsten, wird sich daran nichts ändern. Geschehen ist bisher nichts. Putins energische Versuche, die Provinzen wieder an die Kandare zu nehmen, deuten auch in die Richtung, dass Macht vor Recht geht. In sieben neu geschaffenen Großgouvernements siedelte Putin Supergouverneuere an, die den selbstherrlichen Provinzfürsten auf die Finger schauen sollen und nur ihm rechenschaftspflichtig sind.

Nach dem neuen Steuergesetz fließen fast alle Einnahmen wieder ins Zentrum, das die Verteilung der Almosen übernimmt. Der traditionelle russische Glaube an den Staat als Vater aller Dinge verzeichnet täglich Bodengewinne. Der öffentliche Diskurs unter Putins Ägide stellte bereits die Diagnose: Russlands Staat ist schwach. Das ist er aber nicht, er leidet nur an Verfettung. 15 Millionen Angestellte arbeiten schätzungsweise unter seinem Dach. Der Bürokrat ist allgegenwärtig und kassiert persönlich ab, bevor er selbst errichtete Hürden wieder abräumt.

Die Kooperation zwischen Staatsführung und Bürokratie hat sich längst eingespielt. Der Staat zahlt erbärmliche Gehälter, garantiert seinen Beamten im Gegenzug aber Straffreiheit, wenn sie bei der Verfolgung ihres persönlichen Glücks nicht allzu unverschämt zulangen.

Trotz allem nagen die Russen nicht am Hungertuch. Die Weltbank kam in einer im Sommer veröffentlichten Studie zu einem verblüffenden Ergebnis. Wird das Sozialprodukt auf Grundlage von Kaufkraftparitäten im Unterschied zu Wechselkursen berechnet, rückt Russland in die Gruppe der zehn stärksten Wirtschaftsmächte der Welt auf – der Staat besitzt also Potenzial, soziale Probleme aus eigener Kraft zu lösen.

Nach der Abwertung des Rubels 1998, die Importwaren für die Masse der Bevölkerung unerschwinglich werden ließ, erlebten viele Branchen der Leichtindustrie einen Boom. Vor allem im Lebensmittel- und Textilbereich konnten heimische Produzenten die Lücken der Westimporteure füllen. „Die erfreulichen Effekte der Abwertung“, meint ein seit Jahren in Moskau ansässiger Ökonom der US-Firma Renaissance Capital, „wurden erzielt, weil der Staat ratlos war und untätig blieb.“

Eine Erkenntnis, die auch die rund 20 Millionen russischen Mittelständler, Gewerbetreibenden, Hightech-Spezialisten und Händler unterschreiben würden. Diese schwache Vorhut einer Bürgergesellschaft hat von der Aufrüstung des Staates keine Wohltaten zu erwarten. Wohl nicht ganz zufällig bietet die Juristische Akademie in Moskau den Abgangssemestern dieses Jahres daher eine neue Spezialisierung an: „Wie schützen sich Unternehmer vor dem Staat?“.

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