: Kein Horrorszenario
„Eine Handvoll Gras“: Roland Suso Richters Film über einen Kinder-Dealer ■ Von Christiane Müller-Lobeck
Der Plot ist uralt: Mann in den mittleren Jahren befreundet sich mit kleinem Jungen, entdeckt seine väterliche Ader, geht mit dem Kurzen durch Dick und Dünn und bringt ihm so allerlei bei. Es ist ein Thema der „vaterlosen“ Gesellschaft, ein Motiv aus der Zeit von „zerrütteten“ Familien, gerade so, als befände sich die private Hölle nicht am häufigsten in der „intakten“ Kleinfamilie selbst. Dies Motiv behauptet auch dann noch seine Macht, wenn der Ältere, wie in Roland Suso Richters jüngstem Film Eine Handvoll Gras, nicht die leere Stelle des Vaters füllt, sondern die des ermordeten großen Bruders. Anders als der leibliche Vater, dessen Macht und Wissen beneidet und gehasst wird, darf die Autorität des väterlichen Kumpels als natürliche Überlegenheit verehrt und geliebt werden.
Diese alte Geschichte bettet Richter in eine sehr neue, der es immer wieder gelingt, den überbor-denden Kitsch der ungleichen Freundschaft in den Hintergrund zu drängen: Der kurdische Junge Kendal nämlich wird von seinem Onkel gezwungen, in der Hamburger offenen Drogenszene Stoff zu verkaufen. Immer wieder flieht der Zehnjährige in die Wohnung des Taxifahrers Hellkamp. Den hatte er gleich an seinem ersten Tag in der Stadt kennengelernt, als sein Onkel in Polizeigewahrsam landete. Und noch bevor Hellkamp endgültig beschließt, dem Jungen aus dem Geschäft herauszuhelfen, wird er immer wieder zur Zuflucht vor der Brutalität der Dealer und den Nachstellungen der Polizei. Letzterer allerdings hat Hellkamp, wie Kendal herausfindet, selbst einmal angehört. Keine Freundschaft zwischen einem Mann und einem Kind, die nicht auf dem Höhepunkt des Films auf eine harte Probe gestellt würde. Doch Hellkamp gelingt es, Kendals Vertrauen zurückzugewinnen und mit dem Jungen als Zeugen dem ganzen Drogenring einen entscheidenden Schlag zu versetzen.
Ein Handvoll Gras ist nach der Bubi Scholz Story die zweite gemeinsame Arbeit Richters mit dem Autor Uwe Timm. Die Inspiration zu dem Drehbuch, so Timm, habe ein Artikel im Spiegel über minderjährige kurdische Dealer gegeben. Ariane Barth allerdings hatte darin 1995 ein Horrorszenario systematischen Schleppertums gepinselt – in einer Sprache, die zwischen den Bedrohtheitsvokabeln des Bürgertums und den Stereotypen des Stammtisches changiert. Timm hat nochmal gründlich recherchiert. Dem Film ist mindestens anzurechnen, dass er den Fall individualisiert. Reportagen wie die genannte haben oft genug zu einem Generalverdacht gegen bestimmte Migrantengruppen in Deutschland geführt.
Eine Handvoll Gras nimmt sich darüber hinaus Zeit für eine ausgiebige Beleuchtung der Zustände in Anatolien, die Bedrohung durch das türkische Militär und die Armut der dortigen Bevölkerung. Auch wenn die Bilder des dörflichen Lebens oft zu romantisch geraten, gelingt es doch wenigstens teilweise, das Handeln des Onkels durch die Not der Familie zu erklären. Ercan Durmaz übrigens darf hier als Onkel nicht nur abermals den Bösewicht spielen: Wenn sein Blick hin und wieder von Mitleid für den Neffen zeugt, dann ist das auch, als habe er es satt, als türkischer Schauspieler beim deutschen Film stets für die Rolle des Bad Guy gecastet zu werden.
In der Vorlage war es ein türkischer Jugendarbeiter, der einigen dealenden Jugendlichen half, etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen. Dass Timm und Richter daraus einen deutschen Taxifahrer gemacht haben, mag sicherlich die Identifikation mit dem Helfer auf Seiten des deutsch-deutschen Publikums befördern. Die Struktur der ungleichen Freundschaft aber erklärt Kurden zu bloßen Opfern, denen kraft deutscher Autorität geholfen werden muss. Paternalismus eben.
Deutschlandpremiere heute, 20.30 Uhr, Streits
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