piwik no script img

Arbeit für die soziale Befreiung

Erich Mühsams politisches Leben war abenteuerlich – seine „unpolitischen Erinnerungen“ sind ein Genuss

Etwas eigenartig ist es schon, wenn Erich Mühsam (1878 – 1934) seinen Memoiren den Titel „Unpolitische Erinnerungen“ gibt: Schließlich war er doch bekennender Anarchist, Sozialist, Pazifist und Mitglied im Zentralrat der „Räterepublik Bayern“ im Jahre 1919 – und wurde in einem politischen Prozess zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt. Nach fünf Jahren Haft profitierte Mühsam von der Amnestie, die der Freistaat Bayern Adolf Hitler gewährte. Dieser hatte nur ein Jahr eingesessen für den misslungenen Putsch vom 8./9. November 1923, bei dem 19 Menschen getötet worden waren.

Mühsam, faktisch mittellos wie schon oft zuvor, war damals froh, dass die bürgerliche Vossische Zeitung bei ihm für das „Unterhaltungsblatt“ eine Artikelfolge bestellte, die seine „dringlichsten Existenznotwendigkeiten“ (Mühsam) garantierte. Die Zeitung interessierte sich für Mühsams „Erinnerungen“ – unter der Bedingung, dass sich der notorische Agitator aus der Tagespolitik heraushielt. Und Mühsam selbst entschloss sich zu einer „Arbeitsteilung“: Politische Memoiren wollte er noch nicht schreiben, denn er hielt seine politische Arbeit für noch lange nicht vollendet und konnte deshalb ja auch keine Bilanz ziehen.

Abgeschlossen hatte er dagegen die – scheinbar – unpolitische Phase seines Lebens in der Berliner und Münchener Bohemewelt als „Prototyp eines Caféhausliteraten“. Seine „unpolitischen Erinnerungen“ beschreiben diese mit dem Ersten Weltkrieg untergegangene Welt. Neben der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war die Boheme die einzige ernst zu nehmende Opposition im wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Für Mühsam hat die Boheme nichts zu tun mit der Idylle der Künstlerwelt, wie sie Henri Murger beschrieben und Giacomo Puccini vertont hat. Mühsams Verständnis der Boheme ist der politische Kern der „unpolitischen Erinnerungen“: Die „gesellschaftliche Absonderung der Künstlernaturen“ gründet nicht in Armut oder Exzentrik der Künstler, sondern beruht auf genuin politischen Motiven –dem „Freiheitsdrang“, dem Willen zu einem „freien Leben in selbst gewählten Formen“ und im Dienst der „Arbeit für die soziale Befreiung aller“.

Nach Berlin kam der Lübecker Apothekergehilfe Mühsam um die Jahrhundertwende und beschloss zum 1. 1. 1901 freier Schriftsteller zu werden. Hier lernte er die Dichter und Publizisten Heinrich und Julius Hart sowie den Anarchisten Gustav Landauer kennen. Die drei planten eine „Gemeinschaft des Glücks, der Schönheit, der Kunst und der von neuer Religiosität erfüllten Weihe“. Praktisch kam das Projekt kaum voran, aber die Initiatoren waren „ewig in seligster Seid-umschlungen-Stimmung“. Am stärksten beeinflusste Mühsam zunächst die Theorie der Anarchie, wie sie Landauer entworfen hatte. Mit diesem verband ihn eine lebenslange Freundschaft, die nur in den völlig widersprechenden Auffassungen von Ehe, Treue und Sexualität harten Proben ausgesetzt wurde. Im Gegensatz zu den konventionellen Vorstellungen Landauers sah Mühsam „in der Ehe als einer gesellschaftlich geschützten Einrichtung die Wurzel persönlichkeitunterbindenden Zwanges, in der Einschätzung des monogamischen Lebens als Treue die Verfälschung sittlicher Grundbegriffe, in der Anerkennung der geschlechtlichen Eifersucht als berechtigte und zu Ansprüchen berechtigende Empfindung die Förderung schlimmster autoritärer Triebe und in der Gleichsetzung von Liebe und gegenseitiger Überwachung eine die Natur vergewaltigende, tief freiheitswidrige und reaktionären Interessen dienende Sklavenmoral“. Trotzdem bedient Mühsam in seinen „Erinnerungen“ nicht das voyeuristische Interesse an saftigen Sauf-, Klatsch- und Bettgeschichten aus der Berliner und Münchener Boheme, deutet jedoch an, dass es ziemlich wilde Zeiten waren.

Mühsams Hauptinteresse lag in der modernen Literatur, die er als „Tendenz-Kunst“ verstand und scharf abgrenzte vom „l’art pour l’art“ im Umkreis von Stefan George („Weihestefan“). Mühsam beschreibt seine Begegnungen mit Dehmel, Liliencron, Wedekind, Ibsen, Strindberg, Meyrink, Lasker-Schüler, Kraus, Altenberg, Ringelnatz, Klabund und zahlreichen anderen, heute vergessenen Autoren. Von einigen Autoren, denen er nahe stand, zeichnet Mühsam herrliche Porträts – so zum Beispiel vom „kosmischen Spötter“ Paul Scheerbart, der an einem Perpetuum mobile bastelte und bei dessen Vollendung stolz verkündete, es sei perfekt, laufe jedoch noch nicht. Scheerbart hatte beim Erzählen die Marotte, statt Füllwörter wie „äh“ oder „mh“ das Wort „wisangtschin“ (für „wie gesagt entschieden“) einzuflechten. Mühsam bringt dazu herrlich schräge Geschichten. Ebenso scharf getroffen sind die Porträts von Wedekind und der ihre Autonomieansprüche gegen alle Widerstände durchsetzenden Franziska von Reventlow.

In den Jahren 1904 bis 1909 reiste der permanent fast mittellose Mühsam zusammen mit dem Professorensohn Johannes Nohl quer durch Europa und machte kürzere oder längere Stationen in Zürich, Paris, Ascona, Lausanne, Genua und Wien. Um sich über Wasser zu halten, schickte er Artikel an Karl Kraus mit dem wiederkehrenden Hinweis: „Sollten Sie den Artikel nicht nehmen, so pumpen Sie bitte, bitte irgendwen um 30, 40, 50 Franken für mich an.“

Ab 1910 wohnte Mühsam in München. Die Passagen über das Schwabinger Künstlerpersonal, die Kneipen, Clubs und Kreise gehören zum Besten des Buches. Die Kneipe als „allgemeines Obdach und Wärmehalle für ... anhanglose Lebensführung“ wurde zum Lebensmittelpunkt der Boheme – dieser „unsichtbaren Loge des Widerstands gegen die Autorität der herkömmlichen Sitten“. Für das „dicktuerische Kleinbürgertum“ war diese Boheme ebenso eine Dauerprovokation wie für die offizielle „Münchener Humorigkeit“ und die Polizei, die Mühsam seit 1903 bespitzelte. Mit dem Ersten Weltkrieg ist diese Künstlerwelt verschwunden, aber nicht die Zielsetzung, der sie sich verschrieben hat: „Die Not lehrt, daß eine frohe Welt erkämpft werden muß, eine Welt, in der wieder Freude und Lachen Raum hat, aber nicht als Vorrecht rebellierender Außenseiter, sondern als Inhalt des Lebens und der befreiten Menschheit“. RUDOLF WALTHER

Erich Mühsam: „Unpolitische Erinnerungen“. Mit einem Nachwort von Hubert van den Berg. Edition Nautilus, Hamburg 2000, 240 Seiten, 36 Mark

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen