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Kein Problem mehr zu sehen

Die türkische Regierung schasst die mutige Vorsitzende des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses. Ihr Nachfolger kümmert sich um andere Länder

ISTANBUL taz ■ Eine Woche, bevor EU-Kommissar Günther Verheugen in Ankara die Brüsseler Wunschliste für die „Beitrittspartnerschaft“ der Türkei vorlegen wird, hat Ministerpräsident Bülent Ecevit von der linksnationalen DSP durch eine umstrittene Personalentscheidung für Irritationen gesorgt. Ende letzter Woche wurde bekannt, dass die Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Parlaments, Sema Piskinsüt, abgesetzt und durch einen Vertreter der ultranationalistischen MHP ersetzt werden soll.

Die 48-jährige Sema Piskinsüt, die der DSP Ecevits angehört, hatte in diesem Jahr durch mehrere Berichte über andauernde Folter auf Polizeistationen wiederholt für Aufsehen gesorgt.

Erstmalig erarbeitete unter ihrer Leitung eine offizielle parlamentarische Kommission eine Übersicht über die Anwendung von Folter im Sicherheitsapparat. Die Komission widerlegte die bagatellisierende Version, die seit jeher von den Behörden ausgegeben worden war, nach der es sich bei Folterungen in Polizeigewahrsam stets um Ausrutscher einzelner Beamter handele. Innenminister Sadettin Tantan musste schließlich öffentlich die massenweise Anwendung von Folter in türkischen Polizeistationen zugeben. Für besondere Furore sorgte Sema Piskinsüt, als sie im Frühjahr eine berüchtigte Istanbuler Polizeistation mit ihrer Kommission unangemeldet inspizierte und dabei diverse Folterinstrumente sicher stellte.

Erst Anfang Oktober hatte ihre Kommission noch einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Batman, einer Hochburg der Hizbollah im Südosten der Türkei, vorgelegt und darauf hingewiesen, dass Folter auch nach Beendigung der Kämpfe mit der PKK weiter angewandt wird.

All das ging Ministerpräsident Ecevit und seiner Regierung offenbar viel zu weit – nur mochte er den Rauswurf der mutigen Parlamentarierin aus den eigenen Reihen, die zu forsch gegen den mächtigen Polizei- und Geheimdienstapparat vorging, so auch nicht eingestehen und versuchte daher zunächst, Piskinsüts Entlassung als routinemäßigen Wechsel im Vorsitz des Menschenrechtsausschusses darzustellen. Nach der DSP, so Ecevit, sei nun eben die ultranationalistische MHP an der Reihe, die Partei der „Grauen Wölfe“.

In einem Interview mit dem Nachrichtensender NTV widersprach Piskinsüt dieser Version und beklagte sich öffentlich darüber, dass sie „kalt gestellt“ worden sei. Der Vorgang sorgte nicht nur in linksliberalen Blättern wie Cumhuriyet und Radikal für kritische Schlagzeilen, selbst das nationalistische Massenblatt Hürriyet stellte die Frage, ob Ecevit etwa die Annäherung der Türkei an die EU als politisches Ziel aufgegeben habe.

Immerhin hatte die EU die systematische Folter in der Türkei immer wieder als eines der wesentlichen Hindernisse einer Annäherung kritisiert. Vertreter der Europäischen Union hatten die bisherige Arbeit des Menschenrechtsausschusses unter der Leitung von Piskinsüt als Beispiel für politische Fortschritte in der Türkei gelobt. In der nächsten Woche will die EU in Ankara einen Katalog von Kriterien vorstellen, die die Türkei zu erfüllen habe, um sich für eine Beitrittspartnerschaft zu qualifizieren. Auch dabei wird die EU erneut die Ächtung der Folter und eine Bestrafung von Folterern fordern.

Mit dem Wechsel im Vorsitz des Menschenrechtsausschusses wird die „Nestbeschmutzung“ jetzt ein Ende haben. In einem Interview mit der Zeitung Yeni Binyil kündigte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der MHP, Ismail Köse, an, wie seine Partei sich die weitere Arbeit vorstellt. Bei den Menschenrechten in der Türkei, so meinte er, gebe es keine großen Probleme. Stattdessen werde der Ausschuss sich künftig mit den Verletzungen der Menschenrechte von Türken und Muslimen in Bosnien, in Tschetschenien und in anderen Teilen der Welt beschäftigen. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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