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Russisches Roulette auf See

Der Untergang der „Ievoly Sun“ ist kein Zufall. Alle 15 Minuten passiert ein schrottreifes Schiff die Straße von Ouessant. Die Behörden sind machtlos

aus Paris DOROTHEA HAHN

Um 9.15 Uhr gestern Morgen stand das Schlimmste fest. Die „Ievoly Sun“, mit 6.000 Tonnen hochgiftiger Chemiekalien an Bord, war nicht mehr an der Meeresoberfläche zu halten. Knapp 15 Kilometer vor der normannischen Küste beim Kap La Hague musste der französische Abschleppkahn „Abeille de Flandres“ loslassen. Wenige Stunden vom Industriehafen Cherbourg entfernt, in dessen Richtung das havarierte Chemieschiff seit der Vornacht über die stürmische See geschleppt worden war. „Sie sinkt!“, funkte die Rettungsmannschaft resigniert an Land. Das 108 Meter lange, acht Meter breite und zehn Jahre alte Schiff verschwand life vor den Fernsehkameras.

Ab dem Moment brach Panik aus. Weder die italienische Reederei „Marnavi“, der die „Ievoly Sun“ gehört, noch die italienische Kontrollbehörde „RINA“, die dem Schiff noch Ende Oktober die Seetüchtigkeit bescheinigt hatte, noch die französischen Seefahrtsbehörden waren in der Lage zu sagen, ob sich die Chemikalien zu dem Zeitpunkt noch in den 13 Behältnissen im Bauch des Schiffes befanden, ob die irisierende Lache, die an der Unfallstelle zurückblieb, hochgiftig war, oder ob es sich dabei „bloß“ um den Treibstoff des gesunkenen Schiffes handelte. Niemand vermochte auch zu sagen, welche Gefahren für Mensch und Natur von den Produkten ausgehen könnten, in welche Richtung sie bei ihrem Austreten schwappen und wie sie sich im Meerwasser verhalten würden.

Marineexperten ließen durchblicken, dass es einfacher sei, Öl aus einem havarierten Tanker statt Chemiekalien zu pumpen, womit die Seefahrtexperten viel weniger Erfahrung haben. Fest stand auch, dass sich neuerlich Schlechtwetter über der Unfallstelle anbahnte und dass auch die starken Strömungen an der Stelle, wo die „Ievoly Sun“ gesunken ist, etwaige Bergungsarbeiten komplizieren würden.

Während des ganzen Tages überflogen Hubschrauber die Unglücksststelle. Von Bord aus guckten Meteorologen, Marineexperten und zwei französische MinisterInnen auf die turbulente See hinab. In 80 Meter Tiefe, auf dem Meeresboden, wo vermutlich auch das Wrack der „Ievoly Sun“ landen wird, rosten bereits tausende von mit radioaktivem Inhalt beladene Fässer vor sich hin. Sie wurden in den 50er- und 60er-Jahren klammheimlich von Briten abgelagert. In Sichtweite befindet sich an Land die Wiederaufbereitungsanlage La Hague, wo ausgebrannte Brennstäbe aus französischen, japanischen und deutschen Atomkraftwerken wiederaufbereitet werden. Umweltschützer nennen den Unfallort einen gigantischen Mülleimer zur See.

An Land, wo zahlreiche Küstengemeinden eine neue Öko-Katastrophe unbekannten Ausmaßes befürchten, fühlen sich alle an das erst zehn Monate zurückliegende letzte große Seefahrtsunglück vor der Bretagne erinnert – den Untergang des Öltankers „Erika“ im vergangenen Dezember: Das ausgelaufene Öl verseuchte hunderte von Küstenkilometern und kostete hunderttausende von Seevögeln das Leben. Der örtliche Tourismus wurde schwer geschädigt.

Damals war der Süden der Bretagne betroffen. Dieses Mal sind die nördliche Bretagne und die Normandie bedroht. Die Älteren unter den Anrainern dachten gestern auch an den Untergang der „Amoco-Cadiz“, in dessen Folge sich 1978 eine schwarze Flut über die Küsten der nördlichen Bretagne ergoss.

Gestern wurde bekannt, dass das erst zehn Jahre alte Schiff schon vor jener stürmischen Nacht ein Sicherheitsrisiko darstellte. Auf der Skala von 0 (besonders sicher) bis 50 (seefahrtsuntauglich) hatte die „Ievoly Sun“ einen Risikoindex von 35. Trotzdem durfte sie die gefährliche Straße von Ouessant vor dem äußersten Zipfels der Bretagne passieren.

Täglich fahren 150 schwere Transportschiffe durch die Straße von Ouessant. Sie befördern 25 Prozent der europäischen Erdöl-, Chemie- und Gasmenge. Alle 15 Minuten ist ein Schrottschiff an dieser Stelle unterwegs. Alle 15 Minuten eine Zeitbombe mit rostigem Rumpf, schlecht reparierten Rissen, kaum oder gar nicht ausgebildeten und miserabel bezahlten Besatzungen. Die Matrosen sprechen vielfach so viele unterschiedliche Sprachen, dass sie im Notfall nicht einmal die Befehle ihres Kapitäns verstehen könnten.

Die französischen Seefahrtsbehörden, die vom Land aus die Straße von Ouessant beobachten und bei hohem Seegang routinemäßig Verstärkung anfordern, wissen das alles. Aber gegenüber den Schiffsreedern und gegenüber Kontrollgesellschaften wie der italienischen „Rina“, die schon der „Erika“ eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt hatte und jetzt dasselbe für die „Ievoly Sun“ tat, sind sie machtlos. Die Behörden haben fast keine Handhabe gegen Schrottschiffe.

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