: Die verflixte Aktennotiz
Hans Mommsen, bekanntester deutscher Historiker, wird 70 Jahre alt. Verehrt wird er als Aufklärer. Anfang der Sechzigerjahre allerdings spielte er bei den Forschungen zum Reichstagsbrand eine unrühmliche Rolle
von HERSCH FISCHLER
Mommsens erklärtes Ziel war und ist, deutsche Rückfälle ins Autoritäre und Nationalistische zu verhindern. In jüngster Zeit hat der emeritierte Bochumer Professor zweimal deutlich Position bezogen. Als der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Horst Möller, bei der nationalkonservativen Deutschlandstiftung eine Laudatio auf den Geschichtsphilosophen Ernst Nolte hielt, warf Mommsen Möller vor, revisionistischem Denken unnötig Anerkennung zu verschaffen und das Ansehen des Instituts, weltweit als Forschungsstätte für die NS-Zeit anerkannt, zu beschädigen.
Als im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden der Vertrag des linksliberalen Institutsleiters Klaus-Dietmar Henke nicht mehr verlängert wurde, kritisierte Mommsen dies als Angriff auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft und forderte eine Rücknahme des Beschlusses.
Steht da noch zu bezweifeln, dass auf den Historiker Hans Mommsen Verlass ist, wenn es darum geht, ressentimentgeladenem Revisionismus entgegenzuwirken? Leider ja. Begründet sind die Zweifel durch Mommsens Arbeiten zum Reichstagsbrand und Dokumente, die hierzu kürzlich im IfZ-Archiv gefunden wurden. Sie dokumentieren, wie er selbst daran mitwirkte, die Freiheit der Forschung aus politischen Gründen zu beschneiden und manipulativ eine ungerechtfertigte Geschichtsschreibung zum Dritten Reich herbeizuführen – was Mommsen nie revidiert hat.
Zurück in die Sechzigerjahre. In den von der internationalen Fachwelt stark beachteten Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, herausgegeben vom IfZ, erteilte Mommsen 1964 einer These das geschichtswissenschaftliche Gütesiegel, die das Verständnis der NS-Machteroberung radikal veränderte. Nicht die Nationalsozialisten, so die neue These, sollten es gewesen sein, die am Abend des 27. Februar 1933 das Berliner Reichstagsgebäude angezündet hatten. Der alleinige Brandstifter sei vielmehr der Holländer Marinus van der Lubbe gewesen, jener junge Anarchokommunist, der im Reichstagsbrandprozess 1933 zum Tode verurteilt worden war.
Mommsen beglaubigte, dass die Nazis an dem spektakulären Tat unbeteiligt waren. Ihre Führer seien von der Brandstiftung überrascht worden und hätten sie als Auftakt für einen kommunistischen Aufstand verkannt. Aus Furcht und nicht mit Betrug hätten sie die berüchtigte Notverordnung vom 28. Februar 1933 herbeigeführt, die der NS-Diktatur als legale Grundlage ihrer Politik dienen sollte. Mommsen bestätigte jene Darstellung, die der niedersächsische Verfassungsschützer Fritz Tobias 1959/60 in einer Enthüllungsserie des Spiegels veröffentlichte.
Tobias hatte seine These vom niederländischen Alleintäter mit vernichtet geglaubten Protokollen der polizeilichen Vernehmungen van der Lubbes und Auszügen aus der Verhandlung vor dem Reichsgericht untermauert. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein versicherte, Tobias’ Recherchen seien von seinem Magazin so intensiv geprüft worden, dass sie wissenschaftlichen Standards genügten.
Zunächst war die Skepsis über die Thesen Tobias’ groß. Aber nach 1964 änderte sich das. Fachhistoriker vertrauten Mommsens Bestätigung der Einzeltäterthese, die so zur vorherrschenden Sichtweise aufstieg und auch Eingang in Schulbücher fand. Doch bei der Erteilung des wissenschaftlichen Segens durch Hans Mommsen – damals bereits Uniassistent in Heidelberg – ging es nicht mit rechten Dingen zu.
Ursprünglich war es nicht Mommsen, der für das IfZ eine Stellungnahme zu den Tobias-Thesen erarbeiten sollte. Der Auftrag war vielmehr im März 1960 an den Oberstudienrat Hans Schneider ergangen. Dem Spiegel schickte der studierte Historiker schon im Januar 1960 eine Kritik der Tobias-Serie – ohne Resonanz seitens des Magazins.
Der damalige IfZ-Generalsekretär Helmut Krausnick konnte freilich nicht umhin, Schneiders Forschungsarbeit anzuerkennen. Am 28. Februar 1960 schrieb er ihm: „Ihre eigenen Ausführungen zeugen von einer genauen Beschäftigung mit der Materie und ihrer Darstellung im Spiegel, so dass ich Sie ermutigen möchte, uns Vorschläge für eine Um- beziehungsweise Ausarbeitung zu machen, die den wahren Stand der Forschung in Sachen Reichstagsbrand genau bezeichnen würde.“
Rasch stellte Schneider fest, wie dünn die Dokumentengrundlage der Spiegel-Serie war. Sie bestand nicht aus den Protokollen der Polizeiermittlungen und der polizeilichen Vernehmungen van der Lubbes sowie der Zeugen, sondern nur aus auszugsweisen Abschriften. Und statt der Protokolle der Hauptverhandlung vor dem Reichsgericht nutzte Tobias überwiegend zeitgenössische Berichte über den Prozess.
Schneider suchte stattdessen nach Originaldokumenten und fand heraus, dass die Ermittlungsakten des Verfahrens 1945 von den Sowjets beschlagnahmt worden waren und sich auch in keinem DDR-Archiv befanden. Allerdings gelang es ihm, die Protokolle der Hauptverhandlung zu beschaffen. Er suchte und befragte systematisch Polizisten und Feuerwehrleute, die am Abend des Reichstagsbrandes im Einsatz gewesen waren.
Nach zwei Jahren Recherche schrieb er dem IfZ am 5. Mai 1962 über das Ergebnis dieser Arbeit: „Es ist erwiesen beziehungsweise wird erwiesen werden, dass die Zeugenaussagen eine Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes ausschließen und dass der entgegenstehende Eindruck von Tobias nur durch eine Art der Argumentation und Dokumentation gewonnen und glaubhaft gemacht werden konnte, die in der Wissenschaft ohne Beispiel ist und vom arglosen Leser nicht für möglich gehalten wird.“ Tobias unterlasse es, Spuren zu folgen, die seiner Alleintäterthese widersprächen. Wenn sie für seine Beweisführung unbequem seien, nutze er nicht die vorliegenden Prozessprotokolle, sondern ziehe ungenaue oder falsche Zitate aus Presseberichten vor.
Schneiders Forschungsarbeit für das Institut fand missgünstige Beobachter. Kurze Zeit nach dieser Mitteilung startete die konservative Springerillustrierte Kristall, deren Chefredakteur Horst Mahnke zuvor Augstein-Vertrauter und Spiegel-Ressortleiter gewesen war, einen publizistischen Angriff auf Krausnick und Schneider. Krausnick wurde vorgeworfen, mit Schneider einen Nichtfachmann eingesetzt zu haben.
Schneider legte im Herbst 1962 dem IfZ ein 56-seitiges Manuskript mit über vierhundert Fußnoten vor: „Neues vom Reichstagsbrand?“ Es dokumentierte, dass Tobias’ Argumente für van der Lubbes Alleintäterschaft „der Nachprüfung an Hand der inzwischen dem Institut zugänglich gewordenen Quellen in keinem Punkt standhalten“. Anders als von Tobias behauptet habe der Holländer kein präzises Geständnis abgelegt, sondern sich bei den Vernehmungen derart in Widersprüche verwickelt, dass die Spurenlage am Tatort den Schluss auf Mittäter aufzwinge.
Schneider hoffte auf eine Publikation seiner zu diesem Zeitpunkt noch unvollendeten Arbeit in mehreren Folgen. Dazu hatten das IfZ und die Vierteljahrshefte bereits ihre Zustimmung gegeben. Doch im November 1962 entzog ihm IfZ-Generalsekretär Krausnick den Forschungsauftrag. Bei Recherchen im IfZ-Archiv kam jetzt eine Aktennotiz ans Licht, die den Affront Schneider und seinen Recherchen gegenüber dokumentiert.
In dem Papier fasste der damalige Institutsmitarbeiter Hans Mommsen das Gespräch mit dem Rechtsanwalt des Instituts, Ludwig Delp, zusammen, bei dem es um das weitere Vorgehen im Fall Schneider ging. Mommsen kommt darin zu dem Schluss: „Nach der derzeitigen Rechtslage ist das Institut formell nicht in der Lage, von dem mit Schneider geschlossenen Vertrag zurückzutreten, das heißt, es kann wohl eine Publikation des Manuskripts seinerseits ablehnen, muss aber dann einer anderweitigen Publikation des Manuskripts durch Herrn Schneider seine Zustimmung geben, sofern der Name und die Mitverantwortung des Instituts für Zeitgeschichte in diesem Manuskript nicht zum Ausdruck kommen.“
Dann aber führt Mommsen aus, das Institut habe ein Interesse, „die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern“. Er gibt an, dass „aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht scheint“. Er erörtert auch den einzuschlagenden Weg. „Es wäre indessen vielleicht angezeigt, durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen.“ Als Oberstudienrat unterstand Schneider dienstrechtlich dem Kultusministerium in Stuttgart.
Mommsen weiter: „Im wesentlichen bestehen wohl allein zwei Wege: Der erstere wäre, zurückhaltend Herrn Schneider an den Vertrag weiter zu binden und währenddessen über Stuttgart zu arbeiten, um eine größere Vergleichsbereitschaft zu erzielen. Der zweite besteht darin, rasch und energisch alle Druckmittel, die in unmittelbarer Verfügung des Instituts stehen, auch da, wo sie einer endgültigen juristischen Prüfung nicht standhalten, auszuspielen, um Herrn Schneider daran zu hindern, Zeitgewinn zu haben, sowohl hinsichtlich der Verhandlungen über eine anderweitige Publikation als auch hinsichtlich der Verarbeitung des ihm einstweilen noch zur Verfügung stehenden Quellenmaterials.“
Weitere Recherchen vom September bestätigen, dass der Institutsdirektor Krausnick sich an der in Mommsens Aktennotiz konzipierten Strategie beteiligte. Er übte tatsächlich Druck auf Schneider aus, damit dieser seine Auswertung der Quellen und die Kritik der Tobias-These nicht selbstständig publizierte. Fortan durfte Mommsen für das Institut die Tobias-These untersuchen. Und: Er bestätigte die Alleintäterschaft van der Lubbes pauschal, ohne sie eingehend an den Quellen zu prüfen.
Das IfZ zeigt bislang nur widerstrebend Bereitschaft, die damaligen Vorgänge aufzuklären. Institutsdirektor Udo Wengst meint, Hans Schneider sei überfordert gewesen, deshalb sei seine Studie nicht publiziert worden. Hans Mommsen erklärt, es sei ihm nur darum gegangen, die Frage zu prüfen, ob das Institut verpflichtet werden könne, die unfertige Studie Schneiders zu veröffentlichen. Aber warum wurde dann Druck auf Schneider ausgeübt, damit er auf eine eigenständige Publikation verzichtet, warum wurde ihm die Nutzung der Quellen verwehrt?
Inzwischen sind die Originalermittlungsakten zum Reichstagsbrand im Berliner Bundesarchiv einzusehen. Sie wurden erst nach dem Mauerfall zugänglich. Sie rehabilitieren Hans Schneiders Arbeit: Es gab tatsächlich Spuren, die die Nationalsozialisten belasteten, aber 1933 vertuscht wurden. Für Schneider kam diese Entwicklung zu spät; er starb 1994 in Stuttgart.
HERSCH FISCHLER, 53, Soziologe, arbeitet als Journalist in Düsseldorf. Er beschäftigt sich vor allem mit zeitgeschichtlichen Themen
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