: „Du – oder gar keine Frau“
Paula Karpinski (SPD), Hamburgs erste Senatorin und und zugleich Deutschlands erste Ministerin, feiert heute ihren 103. Geburtstag ■ Von Rolf Kasiske
Die nach dem Kriege erste freie Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft am 13. Oktober 1946 unter britischer Besatzungsaufsicht ist noch gar nicht entschieden, ein paar Wahlversammlungen stehen noch aus, da klingelt in der Fuhlsbütteler Wohnung der Wohlfahrtspflegerin Paula Karpinski das Telefon. „Paula, nach der Wahl wirst du Senator!“ Ein Satz, gesprochen mit der Wucht eines Diktats. Sollte sie die Weisung der SPD-Spitzenleute Adolph Schönfelder und Max Brauer befolgen? Paula Karpinski bittet um Bedenkzeit, bespricht sich mit ihrem Mann Karl und den SPD-Frauen. Denn folgenreich, hatte Schönfelder sanft gedroht, werde eine etwaige Weigerung sein: „Wenn du es nicht machst, kriegt ihr gar keine Frau.“ Sollte sie sich freuen, einen bis dahin unausgesprochen geltenden Bann brechen zu können: „Was für ein Glück, ich werde die erste deutsche Ministerin.“ Aber Paula Karpinski empfindet auch Selbstzweifel: Werde ich die Aufgaben bewältigen?
„Wir hatten nicht viel Zeit, wir hatten überhaupt keine Zeit mehr, wir waren aus der Zeit heraus“, notierte der Schriftsteller Hans-Erich Nossack im weitgehend zerstörten Nachkriegs-Hamburg. Noch 20 Jahre zuvor hatten sich die Genossinnen und Genossen auf dem Reichsjugendtag der sozialdemokratischen Arbeiterjugend 1925 in Hamburg euphorisch als das „Volk von morgen“ gefeiert: „Wir wollen, dass die Arbeit Freude werde“. War daran noch zu denken? Jetzt, da Hunderttausende obdachlos, Familien auf der Flucht auseinander gerissen worden waren und Tausende junger Menschen auf den Straßen herumirrten, da an die Stelle der Arbeit das „Organisieren“ getreten war, mit Kohlenklau, Hamsterfahrten und Schwarzmarktgeschäften?
Paula Karpinski musste nicht erst die Erinnerung an jene tief empfundene Mischung aus Glücksrausch, Optimismus und Gestaltungswillen während des Arbeiterjugendtages in den zwanziger Jahren und die dort formulierten Forderungen zur sozialdemokratischen Jugendpolitik („Sozialismus und Jugendschutz sind Geschwis-ter“) bemühen, um schnell zu wissen: Das machst du. Die Leitung der Jugendbehörde ist dein Feld, hier kannst du helfen, dass Jugendbelange nicht unter die Räder kommen, hier wirst du als Anwältin der Jugend Gegenakzente setzen. Sie wurde Jugendsenatorin, von 1946 bis 1953 und von 1957 bis 1961.
Unbedarft und politisch unerfahren war sie schon zu Beginn ihrer Amtszeit nicht. Als Jugendliche war sie in die SPD eingetreten, wie man motiviert, hatte Paula Karpinski schon im Landesfrauenausschuss der SPD erfahren, wie man sich innerhalb des Parlaments Gehör verschafft, hatte sie zwischen 1931 und 1933 bereits als junge Abgeordnete gelernt, wie man organisiert, erfuhr sie im Landesvorstand der Partei, dessen Mitglied sie bereits im Alter von 23 Jahren geworden war.
Paula Karpinski sitzt auf der Couch vor ihrem Mahagonitischchen, hinter sich ihr geliebtes Ölbild mit den Kindergesichtern aus der Haseldorfer Elbmarsch, und lässt ihr ganz persönliches Jahrhundert Revue passieren. Dabei artikuliert sie im Hamburger Tonfall noch immer so prononciert, als hätte sie gerade einen Erzähl- und Vorlesewettbewerb gewonnen.
Ihr Lebensweg erscheint wie eine Geschichte aus dem Bilderbuch der Sozialdemokratie, mit Bildern vom Elend in den engen Gassen der Neustadt, vom Protest gegen den Hamburger „Wahlrechtsraub“ 1906 oder vom Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress 1923 in Hamburg, dessen stolzer Gastgeber die SPD war. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als deutsche Soldaten voll naiver Begeisterung in den Krieg ziehen und sich von jungen Frauen Blumen in die Gewehrläufe ste-cken lassen, geht Paula Karpinski als 16-Jährige von Haus zu Haus und sammelt Unterschriften gegen den Krieg. Fast erschrickt sie heute noch vor ihrer Courage: „Was die Leute wohl gedacht haben über mich? Damals war es mir selbstverständlich.“ Und dann erzählt sie von den Prägungen eines materiell ärmlichen Elternhauses und dem Leben mit drei Geschwistern in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche am Heidenkampsweg in Hammerbrook. „In meinem Elternhaus wurde viel über Politik geredet. Jeden Abend las meine Mutter meinem Vater und uns Kindern aus dem –Hamburger Echo– vor, der sozialdemokratischen Tageszeitung. Was man las, wurde besprochen, so dass man nachfragen konnte, was man nicht verstanden hatte. Mein Vater war Hafenarbeiter und musste als Kind Kühe hüten, er hat erst durch meine Mutter lesen und schreiben gelernt.“
In einem solchen Milieu erschienen Bildung, der Kampf um Ar-beitsschutz und den Acht-Stunden-Tag, um die Abschaffung von Klassenschranken und die Gleichberechtigung der Geschlechter wie ein Aufstieg aus dunklen Kellerverliesen zum Licht.
Auch die sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf Familienplanung und Geburtenkontrolle waren Teile dieses Freiheitsstrebens. Da sich in vielen Arbeiterfamilien jener Zeit bei diesem Thema jedoch noch verlegene Sprachlosigkeit ausbreitete, wurden insbesondere die Frauengruppen der SPD zu Orten intimen Erfahrungsaustausches. Paula Karpinski erinnert sich an „Paula Henningsens unanständigen Verein“, wie die Frauengruppe einer SPD-Bürgerschaftsabgeordneten im Parteijargon genannt wurde, in der eine Genossin aus Schweden im Selbstversuch zeigte, wie frau sich Pessare einsetzt.
Während reaktionäre Sittenwächter solcherlei Tun als Beleg für den sittlichen und moralischen Verfall betrachteten und Deutschland bei weiter sinkender Geburtenrate in einer nationalen Katastrophe versinken sahen, bedrückte Paula Karpinski und ihre Weggefährten eine ganz andere sich abzeichnende Katastrophe. Mit der Parole „Stürzt die rote Zitadelle“ waren die Nazis 1931 in den Bürgerschaftswahlkampf gezogen und mit 43 von 160 Mandaten aus ihm kaum schwächer als die SPD hervorgegangen. Dass es nicht nur ein böser Spuk war, wie viele naiv vermutet hatten, sollte sich im Frühjahr 1933 zeigen. Wenige Wochen nach der letzten Bürgerschaftswahl wird der gesamte SPD-Landesvorstand in der damaligen Parteizent-rale an der Fehlandtstraße verhaftet. Paula Karpinskis Gesicht drückt auch über 65 Jahre danach noch Entsetzen aus über die physischen Qualen und die Demütigung ihrer einstigen, inzwischen längst verstorbenen Genossen. Ihre eigenen mehrmaligen Haft- und Internierungszeiten, zuletzt vom August bis Oktober 1944 im KZ für politische Häftlinge in Fuhlsbüttel, vergisst sie fast zu erwähnen.
Zwei Jahre später geht Paula Karpinski an der Spitze der Jugendbehörde an die Aufräumarbeit. Sie kümmert sich um die Einrichtung und den Bau von Jugendheimen, Spielplätzen und Kindertagesheimen und um eine qualifizierte Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. 1949 legt sie dem Parlament eine Drei-Jahres-Bilanz ihrer Arbeit vor. Sie will ihre Rede mit einer persönlichen Bemerkung schließen: „Wir haben so selten Gelegenheit, einmal über die Dinge zu sprechen, die uns am Herzen liegen.“ Bürgerschaftspräsident Adolph Schönfelder unterbricht: „Ihr Herz steht im Haushalt nicht zur Debatte.“ Sie beharrt selbstbewusst: „Es ist aber wirklich so, Herr Präsident, dass man diese Arbeit überwiegend mit dem Herzen machen muss und nicht nur mit dem Kopf.“
Als Jugendsenatorin hat Paula Karpinski auch die sich verändernden Erziehungsbedingungen im Blick. Sie kämpft für die vielen allein stehenden, berufstätigen Mütter und betrachtet die hohe Frühinvalidität von Frauen sowie die hohe Müttersterblichkeit als Herausforderung für Gesetzgebung und Beratungsdienste.
Paula Karpinski hatte sich früh geschworen, in der Sache immer hartnäckig, im Ton freundlich vermittelnd zu sein. So verteidigt sie 1950 vor der Bürgerschaft den Etatansatz für den von ihr gegründeten und damals deutschlandweit einzigartigen „Kulturring der Jugend“ mit seinerzeit 8.000 Mitgliedern. „Hier entsteht eine große Jugendkulturgemeinde, die den Zugang zu den Theatern, zu Konzerten und zu besonderen Kulturveranstaltungen gefunden hat.“ Wer hier den Rotstift ansetzen wollte, bekam es mit ihr zu tun: „Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Finanzsenator, daß Sie es übers Herz bringen könnten, gerade dieser Jugend die Mittel zu streichen“, ruft sie in den Plenarsaal. Es war nicht das einzige Mal, dass sie den Finanzsenator mit ihren Projekten öffentlich unter Druck setzte. Als es 1952 da-rum ging, die Entscheidung zum Bau des Volksparkstadions durchzusetzen, droht Paula Karpinski, damals für zwei Jahre auch Sportsenatorin, sie werde dem Finanzsenator „keine Ruhe lassen, bis die berechtigten Wünsche der Sportler erfüllt sind“.
Einen Coup hatte die Jugendsenatorin bereits 1950 gelandet: Die Bebauung des Elbhangs am Stintfang gegenüber den St.Pauli-Landungsbrücken war im Senat zu entscheiden. Paula Karpinski hatte es sich in den Kopf gesetzt: Den Platz brauche ich für die Jugend, für eine Jugendherberge und ein Haus der Jugend. Im Senat formierten sich mit Bürgermeister Max Brauer, Wirtschaftssenator Professor Schiller und dem Finanzsenator die Gegner. Das Gelände sei profitab-ler zu nutzen, beispielsweise durch ein Hotel. Geschickt mobilisierte die Jugendsenatorin die von Vertretern aller Parteien besetzte „Deputation“ ihrer Behörde und argumentierte, wer als Jugendlicher aus nah und fern, vor allem auch aus dem Ausland, einmal den wunderschönen Ausblick vom Stintfang auf den Hafen genossen habe, werde immer wiederkehren in diese Stadt und bedacht darauf sein, auch wirtschaftliche Kontakte zu ihr zu knüpfen. Ihre Argumentation beeindruckte die Senatskollegen, die Senatorin setzte sich durch.
Vor drei Jahren war Paula Karpinski zu ihrem 100. Geburtstag mit einem Fernsehteam wieder einmal auf dem Stintfang: „Da habe ich in einem der großen Säle gestanden, dieser Blick die Elbe hinunter – überwältigend. Da habe ich gedacht, das ist wirklich richtig gewesen, was wir damals gemacht haben.“ Wohlwissend, dass Inves-toren immer wieder auf dieses „Filetstück“ von Immobilie schielen, hat sich Paula Karpinski vom Senat versprechen lassen, dass der Stintfang für immer in Jugendhand bleiben werde.
Auch in ihrem heute beginnenden 104. Lebensjahr reduziert sich das Leben der Paula Karpinski nicht auf das zweimalige tägliche Warten auf den Pflegedienst. Paula Karpinski genießt bis heute Gemeinschaft, sie rezitiert Gedichte und will noch vieles, vieles lesen.
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