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Gegen die postmoderne Denkverwilderung

Hans-Ulrich Wehlers Essays sind entweder unfair und überzogen oder gehaltvoll und wohl überlegt – auf jeden Fall wird einem beim Lesen nicht langweilig. Sein Buch wirkt zudem wie eine Vorstudie zu dem mit Spannung erwarteten vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte

von RICHARD J. EVANS

Jedes Mal, wenn ich einen von Hans-Ulrich Wehlers polemischen Essays lese, lerne ich neue beleidigende Ausdrücke. Das ist für mich als nichtmuttersprachlicher Leser zwar eines der zweitrangigen, aber absolut zuverlässigen Vergnügen beim Lesen seiner Arbeiten. So habe ich auch diesem Aufsatzband mit freudiger Erwartung entgegengesehen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Wehlers Einfallsreichtum hat bei seinem Beleidigungsvokabular mit zunehmenden Alter nicht im Geringsten abgenommen.

Unter den herzerfrischenden neuen linguistischen Schätzen, die ich meiner bereits überbordenden Liste hinzugefügt habe, sind die folgenden beiden Bezugnahmen auf Michel Foucault – „dieser radikal antinormativistische, von jeder Kenntnis der Hermeneutik unbeleckte Repräsentant der postmodernen Denkverwilderung“ (S. 307) und „ein kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die postmoderne Denkverwilderung“ (S. 91). Und es gibt viele weitere. An dem Widerspruch zwischen „anti-“ und „krypto-“ braucht man sich nicht weiter zu stören – wenn Wehlers Vitriol erst mal fließt, ist es durch Nachdenken nicht mehr aufzuhalten. Und darin liegt natürlich der Spaß beim Lesen: unfair, widersprüchlich, überzogen, aber auch geistreich, stilvoll, flüssig, und immer gedankenanregend, selbst wenn die Gedanken, auf die man beim Lesen kommt, vermutlich nicht immer die sind, die Wehler bei seinen Lesern provozieren will.

Genau genommen gibt es zwei Wehlers, die beide in dem Buch vorkommen. Da ist der polemische Wehler, dessen jüngster Schlagabtausch mit Geoff Eley (der hier nicht nachgedruckt wird) eine Veränderung verdeutlichte – in der alten Terminologie der nuklearen Abschreckung: von seiner normalen Praxis des Overkill hin zu dem finalen Stadium der „gegenseitig gesicherten Zerstörungfähigkeit“. Und da ist der nüchterne, ernsthafte und wissenschaftliche Wehler, nicht immer so leicht zu lesen, der in vieler Hinsicht konsistenter ist, genauer überlegt, ausgewogener und der es eher wert ist, aufmerksam gelesen zu werden. Der Vorzug dieser Sammlung ist, dass man, sollte man ermüdet von der Polemik sein, sich der Wissenschaft zuwenden kann, und umgekehrt.

Der gehaltvollste der hier versammelten Aufsätze und Vorträge, die bis auf vier bereits zuvor publiziert wurden, ist Wehlers ausführliche und gedankenschwere Diskussion des Themas „Nationalsozialismus und Historiker“. Seine Überlegungen leitet er mit der scharfen Kontroverse ein, die 1998 beim Historikertag explodierte: Damals wurde erstmals vor einer breiten Öffentlichkeit die Rolle der wichtigen Nachkriegshistoriker während des Dritten Reiches diskutiert und kritisiert – allen voran die von Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann und Theodor Schieder, der Wehlers eigener Lehrmeister war.

Wehlers Aufsatz ist ausführlich, detailliert und ausgewogen und für jeden, der sich für das Thema interessiert, eine wertvolle Lektüre. Er kommt zu dem Schluss, dass die Haltung besonders dieser Historiker gegenüber der Politik des Regimes in Ostmitteleuropa nicht zu verteidigen ist. Sie waren, und das wird im Rückblick klar, mehr als bloße Mitläufer. In der Folge jedoch, meint Wehler, hätten sie ihre Jugendsünden zu einem großen Ausmaß kompensiert, indem sie nach dem Krieg eine liberale Haltung eingenommen haben. Zudem hätten sie junge Historiker ermutigt, Positionen zu vertreten, die links von ihren eigenen lagen, und methodologisch bahnbrechende Arbeiten im Bereich der Sozialgeschichte angeregt, die nach Wehlers Ansicht weit entfernt sind von der nationalsozialistischen „Volksgeschichte“.Dennoch kann Wehler ihnen nicht verzeihen, dass sie ihre Aktivitäten zwischen 1933 und 1945 in der Nachkriegszeit vollkommen verschwiegen haben. Es wäre viel besser gewesen, meint er, wenn sie offen zugegeben hätten, in welchem Ausmaß sie sich kompromittiert haben. Ob ein derartiges Eingeständnis es ihnen erlaubt hätte, ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortzusetzen und den Einfluss auszuüben, den sie hatten, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Vielleicht ist Wehler doch ein bisschen zu naiv, wenn er meint, ein derartiges Eingeständnis hätte ihnen nicht nachhaltig geschadet.

Bei den weiteren historiografischen Aufsätzen des Bandes ist man verblüfft, wie selektiv Wehlers Wahrnehmung von Historikern anderer Länder ist. Unter den Historikern meines eigenen Landes zum Beispiel nimmt er wirklich nur die von Eric Hobsbawm und seinen Zeitgenossen begründete neomarxistische Tradition wahr. Ich fühle mich verpflichtet zu protestieren, dass die englische politische Geschichte in den vergangenen Dekaden mehr zuwege gebracht hat, als faktengesättigte empirische Artikel in der English Historical Review – „dem absolut zuverlässigen Schlafmittel in jeder ordentlichen Hausapotheke“, wie Wehler meint.

Außer Polemik und Historiografie enthält der Band lesenswerte Essays über weit gestreute Probleme der deutschen und europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa über den Ersten Weltkrieg als totalen Krieg oder Wehlers alten Favoriten, die Sozialstruktur. Wehlers beneidenswerte Fähigkeit, alte Sichten zu überdenken und alte Positionen neu zu formulieren, kommt hier vielleicht nicht ganz so klar zum Ausdruck wie in Bezug auf die NS-Debatte um Schieder. Jeder, der eine prickelnde Neuauflage der Sonderwegthese im entsprechenden Aufsatz erwartet hat, wird allerdings enttäuscht sein.

Ingesamt gesehen könnte man diese Aufsätze als Vorstudien zum vierten und letzten Band von Wehlers Gesellschaftsgeschichte ansehen, der die Zeit von 1914 bis 1945 umfassen soll. Dieses Projekt hat er vor drei Jahrzehnten in Angriff genommen und vor dem Hintergrund eines sich schnell ändernden Klimas in der Geschichtswissenschaft unbeirrt vorangetrieben. Die Herausforderung, sowohl in Hinblick auf Theorie, Methodologie, Struktur und Gedankenführung einen Bogen durch alle vier Bände zu spannen, ist es, die auch die offensichtlich bunte Mischung der Essays untereinander verbindet. Ich bin gespannt zu sehen, wie er die Herausforderung Band vier der Gesellschaftsgeschichte meistern wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Sabine Vogel

Hans-Ulrich Wehler: „Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert“, C.H.Beck (beck’sche Reihe), München 2000, 29,90 DM

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