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Eine ganz normale Prozedur

Von einem, der auf die Freigabe seines Eigentums nicht bis zum EU-Beitritt Polens warten wollte und die Staatsanwaltschaft „nachdrücklich“ unterstützte

aus Warschau HENK RAIJER

Dienstag, 3. Oktober, 14.02 Uhr, Zollamt Warschau auf dem östlichen Weichselufer, im Bürozimmer des Sachbearbeiters Tomasz Piątek: „Die Sache RKS-284/2000/ST?“ Der Beamte, grüner Dienstanorak, polnischer Adler in Silber auf der Krawatte, schaut müde aus dem Fenster. „Aha, der Berliner Mazda“, bringt er schließlich hervor. „Ihre Freundin ruft ständig an. Was wollen Sie?“ – „Meinen Wagen.“ Tomasz Piątek lehnt sich würdevoll nach vorne. Der 50-Jährige atmet tief durch: „Aber ich bitte Sie, mein Herr, das ist eine Strafsache. Sie müssen warten.“ – „Haben Sie meine Akte?“ – „Ihre Akte? Ja, warten Sie . . . Nein, Ihre Akte ist am 12. 9. an die Staatsanwaltschaft Wola gegangen, eine ganz normale Prozedur.“ – „Und wie ist so eine ganz normale Prozedur?“ Tomasz Piątek schaut den ungebetenen Gast überlegen an, seine blutleeren Finger manövrieren dabei Formblätter von links nach rechts: „Sie warten.“ – „Wie lange?“ – „Na ja, Sie müssen verstehen, die Staatsanwaltschaft prüft die Schwere des Vergehens.“ – „Wessen Vergehen?“ – „Na, Ihres.“ – „Ich war zur Tatzeit gar nicht in Warschau.“ – „Das hat die Staatsanwaltschaft in Wola zu klären, eine ganz normale Prozedur.“

Mittwoch, 4. Oktober, 9.50 Uhr, auf dem fensterlosen Flur der „Prokuratura“, Bezirk Wola: „Ihr Aktenzeichen nützt mir nichts“, wimmelt der ältere Herr am „Empfang“ den Besucher ab. „Zu wem wollen Sie?“ – „Zu demjenigen, der meinen Fall bearbeitet.“ Der Herr über alle Türen erhebt sich, überlegt sich auf Drängen des polnisch stammelnden Besuchers sein vorheriges „So geht das nicht“ und schleppt sich ins Sekretariat mit einem „Warten Sie hier“.

10.34 Uhr, Zimmer 33, Sekretariat der Staatsanwaltschaft. „Wann soll die Akte eingegangen sein?“ – „Ein oder zwei Tage nach dem 12. September.“ Die übergewichtige junge Frau blättert in dem großen Buch, in dem tausende handgeschriebene Vorgänge eingetragen sind. „Gibt’s hier nicht.“ – „Kann nur hier sein, behauptet das Zollamt.“ – „Gehen Sie zur Polizei im ersten Stock. Wenn Ihr Wagen in diesem Stadtbezirk angehalten wurde, haben die einen Vermerk.“

11.15 Uhr, auf dem Polizeirevier Wola: Das Radio lärmt. „Mazda 626, Berliner Kennzeichen, sagten Sie?“ Der Uniformierte zündet sich, der Bedeutung seiner Aufgabe gemäß, eine Zigarette an und wälzt sein großes Buch mit handgeschriebenen Eintragungen. „Hier, Mazda 626, gestoppt am 8. September 2000, Jana Pawla, Ecke Jerozolimski“, zeigt er mit gelbem Zeigefinger auf einen Vermerk. „Wer ist gefahren?“ – „Meine polnische Freundin.“ – „Das ist doch ungesetzlich“, brüllt der Mann, in dessen Büro die Musik jeden Versuch einer deutsch-polnischen Annäherung obsolet macht. „Deswegen bin ich ja hier, ich suche meine Akte.“ – „Die ist beim Zoll.“

12.45 Uhr, zurück im Sekretariat: „Dürfte ich Ihr Telefon benutzen, um beim Zoll anzurufen?“ – „Telefonieren dürfen nur Mitarbeiter“, sagt die Sekretärin zögernd. „Aber Sie könnten das doch für mich machen, oder?“ Unsicher schaut sie ihre Kollegin an, die am Fenster Heftchen liest. Dann: „Hören Sie, ich habe vielleicht etwas gefunden. Ihre Strafsache hat bei uns ein neues Aktenzeichen bekommen: KO 1016/00.“ – „Die Akte ist also hier?“ Betretener Blick zum Fenster. „Das kann ich so nicht sagen. Meine Chefin, Frau Jaruzelski, hat sie bearbeitet. Aber die ist erst morgen wieder da.“

Donnerstag, 5. Oktober, 9.17 Uhr, in Zimmer 19, dem Büro von Frau Staatsanwalt Małgorzata Jaruzelski: „KO 1016/00? Worum soll’s da gehen?“ – „Um die Beschlagnahmung meines Wagens.“ – „Mir nicht bekannt. Bitte, gehen Sie, ich habe zu arbeiten.“ Staatsanwältin Jaruzelski ist heute nicht gut aufgelegt. Die Ankündigung, ohne konkreten Hinweis auf ein Verbleib der Akte das Zimmer nicht verlassen zu wollen und ein demonstratives Handy-Telefonat mit der Rechtsabteilung der deutschen Botschaft versauen der jungen Frau schon am frühen Morgen den Tag. „Verlassen Sie sofort mein Zimmer.“ Nervös wirft die Staatsanwältin ihre blondierten Locken in den Nacken, ihre Stimme überschlägt sich, sie reißt die Tür auf, ruft Hilfe herbei. Der Empfangschef bittet auf den Flur, die Damen von Zimmer 33 sollen weitersuchen, Frau Jaruzelski verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer.

10.20 Uhr, auf dem Flur zwischen den Zimmern 19 und 33.

12.00 Uhr, auf dem Flur zwischen den Zimmern 19 und 33. „Mahlzeit.“ Der erneute Griff zum Handy verdirbt der fülligen Sekretärin glatt den Appetit. „Ihre Akte ist möglicherweise an die Staatsanwaltschaft von Żoliborz gegangen. Ich werde dort für Sie anrufen. Dauert aber eine Stunde, bis die was finden.“

12.54 Uhr: Hektische Flecken im Gesicht der Sekretärin lassen nur einen Schluss zu: Die Akte ist nie in Żoliborz angekommen. „Żoliborz ist nicht zuständig“, erklärt sie. „Wer ist zuständig?“ – „Wahrscheinlich Ochota. Die Straße, in der ihr Auto gestoppt wurde, gehört zum Bezirk Ochota.“ KO 1016/00 ist den dortigen Behörden anscheinend auch kein Begriff, denn in den nächsten anderthalb Stunden hasten ein Dutzend Mitarbeiter kopflos über den Flur. Im Zimmer 19 reden Kollegen auf Frau Jaruzelski ein. Die wird immer kleinlauter. Der Empfangschef rollt mit den Augen, als ihm eine Staatsanwältin den neuesten Stand der Forschung mitteilt. Der Amts-Gau lässt sich nicht mehr verschleiern: Die Akte ist verschwunden. Auf dem Dienstweg. Eine ganz normale Prozedur?

14.15 Uhr: Die Drohung, die Aktensuche am nächsten Tag in Begleitung eines Reporters der Gazeta Wyborcza fortzusetzen, hat den dritten Stock in Agonie versetzt. „Kann ich Ihnen etwas zu essen bringen, wollen Sie von meinem Büro aus telefonieren?“ Anna Nowakowska, einer Amtskollegin von Frau Jaruzelski, ist die Sache peinlich. „Jeder Staatsanwalt hat über 100 Fälle auf dem Tisch, und in diesem Haus gibt’s keinen Computer“, bemüht sich die junge Frau, die einige Zeit in Wien gelebt hat, um Schadensbegrenzung. Der Empfangschef beugt sich vor, flüstert konspirativ: „Polen ist nicht reif für die Europäische Union, sondern für die Sowjetunion.“

15.04 Uhr: „Wir haben sie.“ Die Grimmigkeit ist wie weggeblasen, freudestrahlend versammeln sich zwölf Mitarbeiter um den Stuhl des Störenfrieds. Der Empfangschef steckt den Daumen in die Höh’, sagt: „Hat sich Ihre Beharrlichkeit ja doch gelohnt.“ Könnte denn bitte entschieden werden, damit die Akte zum Zoll zurückgelangt? „Leider nein, wir sind nicht zuständig“, sagt die Sekretärin von Frau Jaruzelski. Die hat sich seit Stunden nicht mehr blicken lassen. „Ich rede mal mit dem Chef“, verspricht Anna Nowakowska.

16.00 Uhr: Ungläubiges Staunen beim Fußvolk: „Die Jaruzelski unterschreibt“, wabert es über den Flur. Staatsanwältin Nowakowska tritt aus dem Zimmer der Kollegin Jaruzelski. „Unser Bote bringt Ihre Akte zurück zum Zollamt, gegen elf Uhr morgen früh ist sie beim zuständigen Sachbearbeiter. Nur er kann das Auto freigeben“, erläutert sie. Und fügt verlegen lächelnd hinzu: „Das ist die ganz normale Prozedur.“

Freitag, 6. Oktober, 12.05 Uhr, Zollamt Warschau auf dem östlichen Weichselufer: „KO 1016/00?“ fragt die Chefin der Poststelle. „Aus Wola? Haben wir nicht. Aus Wola war heute nichts dabei. Bis Dienstschluss passiert auch nichts mehr. Kommen Sie am Montag wieder.“

Montag, 9. Oktober, 10.04 Uhr, im Zimmer von Tomasz Piątek: Der Zollbeamte fingert an der Mappe, die vor ihm auf dem Tisch liegt. „Der Vorgang ist bei mir eingetroffen. Ich sehe mich allerdings außer Stande, die Akte zu schließen und das Beweisstück freizugeben . . .“ – „Aber Sie haben doch am letzten Dienstag . . .“ Tomasz Piątek blickt müde aus dem Fenster, „. . . weil die Aussage Ihrer Freundin dagegen spricht. Laut Protokoll haben Sie Ihrer Freundin schriftlich die Erlaubnis gegeben, mit dem deutschen Auto zu fahren. Und das ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft.“

11.20 Uhr, im Zimmer von Piąteks Chef, Jerzy Olszewski: „Ich verstehe, dass Sie für Ihre Arbeit als Journalist das Auto brauchen. Und ich sehe, dass Sie genau beobachten, was Sie hier erleben“, müht sich Zolldirektor Olszewski ab. „Für Sie und mich ist das Ganze eine Bagatelle, aber für den Kollegen Piątek geht es um die Wahrheit.“ Ob er nicht auf Grund seiner Autorität . . .? „Nein, ich darf Piątek nicht beeinflussen. Allerdings . . .“ – Direktor Olszewski steht auf, glättet mit der Rechten seine Uniformjacke und schließt die Tür zum Vorzimmer – „könnte Ihre Freundin ihre Erklärung zurückziehen und aussagen, es habe sich um einen Notfall gehandelt, etwa ihr Kind sei in der Schule erkrankt. Sie als Verdächtiger sollten auch eine Erklärung abgeben, die mit der ihrigen korrespondiert. Allerdings brauchen wir dafür einen Übersetzer. Wenn das vorliegt, regeln wir die Sache mit Piątek.“

Dienstag, 10. Oktober, 13.03 Uhr, im Büro von Tomasz Piątek: Vernehmung des Verdächtigen. Nach den in Polen obligatorischen Fragen nach Mädchenname und Geburtsdatum der Mutter, die die Übersetzerin gewissenhaft ins Deutsche überträgt, will Tomasz Piątek wissen, ob man gedient habe. Dann, überaus gerichtsrelevant: „Sind Sie Reservist?“ – „Herr Piątek, ist man in Polen Reservist mit 46?“ Weiter geht’s mit den Vermögensverhältnissen und der Frage, ob der Verdächtige in letzter Zeit beim Psychiater gewesen sei. Nach zwei Stunden ist die Vernehmung abgeschlossen, die Aussage kompatibel gemacht. Direktor Olszewski kann entscheiden.

15.15 Uhr: Jerzy Olszewski hat seine Dienstuniform bereits ausgezogen und ist auf dem Weg zum Parkplatz. „Wir dürfen keine Überstunden machen. Geld ist keins da, und abbummeln ist nicht drin“, sagt er. „Kommen Sie morgen, da hab ich Ihre Akte gelesen.“

Mittwoch, 11. Oktober, 10.05 Uhr, im Zimmer von Jerzy Olszewski: „Herr Direktor, wo kann ich das Auto abholen?“ Jerzy Olszewski blättert ziellos in der grünen Mappe, die ihm Sachbearbeiter Piątek hereingereicht hat. „Es ist nicht so einfach“, beginnt er. „Wissen Sie, Piątek hat Zweifel am Wahrheitsgehalt Ihrer beider Aussagen. Die Akte muss noch mal nach Wola. Und die Chancen auf Einstellung des Verfahrens stehen damit 50 zu 50.“ – „Aber die Version mit dem Notfall haben Sie uns doch selbst vorgeschlagen . . .“ Das ist Direktor Olszewski nun aber unangenehm. „Na ja, warten Sie, ich habe nur gesagt, Ihre Freundin, die ja gefahren ist, solle sich überlegen . . .“ – „Wer entscheidet denn nun, wann ich das Auto bekomme?“ – „Piątek.“ Olszewski lächelt wissend. „Ich weiß, unkonventionelle, schnelle Lösungen sind seine Sache nicht.“ – „Schätze, auf der Prokuratur entscheidet meine Lieblingsstaatsanwältin, nicht wahr?“ – „Ja. Das ist die ganz normale Prozedur.“

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