: Eine Anregung zum Aufstand
Bis zu 100.000 Menschen werden morgen zur Demonstration für Toleranz und Menschlichkeit erwartet. Ob es ein machtvoller Protest wird oder bei den Worthülsen der Politik bleibt, ist offen
von GEREON ASMUTH
Für Mitmenschlichkeit und Toleranz ist der Minimalkonsens, unter dem sich der Aufstand der Anständigen morgen in der deutschen Hauptstadt formieren soll. Wogegen der Aufstand sich genau richtet, das ist in dem Motto wohlweislich verschwiegen. Während sich in der Levetzowstraße in Moabit morgen AntifaschistInnen gegen den erstarkenden Antisemitismus versammeln werden, demonstriert die Masse der Anständigen zwischen Edmund Stoiber und Otto Schily irgendwie für das Gute.
Es war ein langer Sommer der Diskussion über Rechtsextremismus, bevor Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang Oktober den „Aufstand der Anständigen“ forderte. Wenig später rief eine Intiative zur Großdemonstration am 9. November unter dem Motto: „Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz“.
Nicht nur der Bundeskanzler gehört zu den Erstunterzeichnern. Auch CDU-Chefin Angela Merkel. Nach einigem Zögern hatten sich die Christdemokraten durchgerungen, das Allparteienbündnis mit zahlreichen Verbänden und Prominenten zu komplettieren.
Nun wollen sie morgen alle auf die Straße gehen: von der PDS bis zur FDP, vom Landessportbund bis zur Arbeiterwohlfahrt, von Boris Becker bis Eberhard Diepgen. Ein breites, kein starkes Bündnis. Es beruht auf einem Minimalkonsens. Und: Ein zwiespältiges Bündnis. Denn wer sich morgen einreiht, setzt sich auch mit denen in ein Boot, die das Boot für zu voll halten. Und das sind nicht nur Politiker der Union, die ihre latente Rechtsdrift nun gern hinter einer toleranten Leitkultur verstecken wollen. Auch unter einer rot-grünen Bundesregierung ist beispielweise die Situation in den Abschiebeknäste alles andere als menschlich.
„Es ist unerträglich, dass auch die Vertreter des rassistischen Begriffes einer deutschen Leitkultur zu den Erstunterzeichnern gehören“, schrieb gestern der Flüchtlingsrat Berlin. Kann man aber andererseits einem Aufruf für Toleranz, für Zivilcourage und Entschlossenheit, gegen Rassismus, Antisemitismus und Gleichgültigkeit seine Unterstützung versagen, nur weil da auch ein paar Heuchler aufstehen? Offensichtlich nicht: Die Freie Universität, die ÖTV, die Rechtsanwaltskammer, die Kinobranche Berlins haben gestern zur Teilnahme aufgerufen. Und auch die Kurdische Gemeinde, der Polnische Sozialrat und die Vereinigung der Vietnamesen. Inzwischen werden bis zu 100.000 Menschen erwartet.
Und wenn ausgerechnet Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) die Teilnahme verweigert, spricht das eher dafür hinzugehen. „Mit Kerzenprozessionen beeindruckt man rechtextremistische Gewalttäter nicht“, argumentiert Schönbohm. Damit hat er wohl Recht. Falsch liegt er aber, wenn er die symbolträchtige Demo für Zeitverschwendung hält. Denn – wie Günter Nooke, der stellvertretende Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU im Bundestag sagt – „Lichterketten sind Instrument der Bürger und nicht der Politik“.
Schon am 8. November 1992 hatte ein Allparteienbündnis zum Protest gerufen. Auch damals ging es vielen nur um das Ansehen Deutschlands im Ausland, das zuvor unter den tagelangen Pogromen gegen ein Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen gelitten hatte. Auch damals reichte es nur zu einem Minimalkonsens. Motto wurde der Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Nahezu gleichzeitig beschloss eine ganz große Koalition inklusive SPD die faktische Abschaffung des Asylrechts, das zwar auch vom Grundgesetz garantiert wurde, aber eben erst in Artikel 16.
300.000 Menschen folgten dennoch ebenjenem Aufruf. Und ein Großteil nutzte ihn als Protest. Durch Transparente und Sprechchöre war die Forderung nach Erhalt des Asylrechts unübersehbar.
Am Ende flogen Eier auf den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er war der einzige Redner, auf den sich das Bündnis in seinem Minimalkonsens einigen konnte. Jeder weitere hätte die Worthülse mit zu viel Inhalt sprengen können. Das taten eigentlich schon die Transparente vor der Bühne. Das taten auch die Eierwürfe. Wahrscheinlich waren sie ein überflüssiges, aber ein treffendes Symbol für die politische Diskrepanz zwischen Bühne und Publikum.
Ein Aufstand ist immer etwas, das von unten kommt. Man darf gespannt sein, ob den Politikern ihre Worthülsen und Lippenbekenntnisse morgen erneut auf Transparenten um die Ohren gehauen werden. Oder ob die Demonstranten zwar ihr Gesicht, aber nicht ihre Haltung zeigen. Dann könnten sie Teil einer schweigenden Masse bleiben, beliebig interpretierbar, wie der Minimalkonsens der Aufrufer.
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