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Eine Stimme von Herzen

Warum die Wahl in Wahrheit so knapp verlief oder Wie Al Gore doch noch die Stimme von Tibby Brown bekam

BERLIN taz ■ Tibby Brown (75) fühlt sich wie eingeschnürt. Wieder mal das Herz! Am letzten Freitag sitzt sie im Kino, als der Druck in ihrer Brust tonnenschwer wird. Tapfer sieht sie den Film zu Ende und fährt dann direkt ins Krankenhaus von Huntington auf Long Island, wo sie stationär aufgenommen wird – drei Tage vor der Wahl.

Tibby Brown ist überzeugte Demokratin, Hillary ihre große Favoritin und Gore das kleinere Übel. Nur: Im „Huntington-Hospital“ kann niemand wählen! Keine Wahlurne, nirgends. Und kein Wahlservice für Kranke. Da Tibby ihre Herzbeschwerden nicht vorausgesehen hat, konnte sie keine Briefwahl beantragen. Also ans Telefon gehängt, bis die Leitung quietscht. In der Wahlzentrale ihres Landkreises nimmt niemand ab. Immer wieder! Jetzt wird die Tochter in Berlin aus dem Bett geholt. Die recherchiert im Internet die Bedingungen für die Briefwahl in New York und schickt aufgeregte Faxe und E-Mails ins Suffolk-County-Wahlbüro. Antworten: keine! Also wird der „Social Service“ im Krankenhaus aufgescheucht. „Mom muss wählen!“ Das ganze Krankenhaus diskutiert, wie die alte Dame ihr Kreuz machen kann, doch selbst der Oberarzt kennt keinen Ausweg.

Einzige Chance: Tochter Allison in Berlin muss zum Wahlbüro nach Yaphank düsen, dort persönlich Tibbys Wahlunterlagen abholen, sie ins 35 Meilen entfernte Krankenhaus bringen, die Mutter wählen lassen und den verschlossenen Umschlag im Wahloffice abgeben. Dann zurück nach Berlin fliegen. Tibby tobt, droht mit Kanülenrausreißen. Doch zum Glück hat Amerika robuste Wählerinnen: Tibby besteht den Bypass-Belastungstest, das Herz hat sich vor lauter Wahlstress schnell erholt. Sie wird gerade noch rechtzeitig aus dem Krankenhaus entlassen. Das ganze Huntington-Hospital applaudiert. Gore und Hillary haben eine Stimme mehr.

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