■ Entsolidarisierung im Gesundheitssystem: Kiezärzte vor dem Aus
betr.: „Wohl dotierte Klagelaute“ (Ärzteprotest), Kommentar von Annette Rogalla, taz vom 1. 11. 00
Ganz so wohl dotiert, wie sich Ihre Autorin das vorstellt, sind die Klagelaute der Berliner Ärzte nicht. Hier eine kleine Hilfe zur Recherche:
Dass die Studie über Ärzteeinkommen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung plausibel ist, zeigt ein einfaches Rechenexempel: Zirka 100.000 Vertragsärzte in der Bundesrepublik erhalten ein Gesamthonorar von zirka 44 Milliarden Mark. Macht 440.000 Mark durchschnittliches Honorar. Bei einem durchschnittlichen Betriebskostensatz von 56 Prozent errechnet sich das Einkommen vor Steuern von knapp 195.000 Mark. Doch das Durchschnittseinkommen der Berliner Vertragsärzte ist deutlich geringer.
Auch dazu ein Rechenexempel: Wären die oben genannten Gesamtkosten über die Republik gleichmäßig verteilt, müsste für die zirka 6.000 Vertragsärzte Berlins ein Honorar von 2,64 Milliarden Mark zur Verfügung stehen. Tatsächlich beträgt die Gesamtvergütung der Berliner Vertragsärzte aber nur zirka 1,6 Milliarden Mark, das sind 61 Prozent des Bundesdurchschnitts. Rein rechnerisch steht damit dem Berliner Vertragsarzt im Durchschnitt ein Jahresumsatz von 267.000 Mark zur Verfügung. Das entspricht bei oben angegebenem Betriebskostensatz einem Einkommen vor Steuern von 117.000 Mark.
Da aber Mieten, Gehälter und andere Praxiskosten in Berlin nicht günstiger sind als in anderen Großstädten, ist mit einem gleichen Betrag für die Kosten zu rechnen, bei geringerem Honorar muss somit in Berlin ein höherer Betriebskostenanteil in Prozent zur Anrechnung kommen. Damit liegt das Einkommen wahrscheinlich knapp unter der 100.000-Mark-Grenze.
Zum Vergleich: Ein angestellter Krankenhausarzt mit abgeschlossener Facharztausbildung erhält ohne Nacht- und Wochenendzuschläge nach BAT zirka 120.000 Mark im Jahr. Eine Umverteilung von Geldern zwischen den einzelnen KV-Regionen ist nicht möglich. Das sollten auch diejenigen Politiker wissen, die immer behaupten, die Ärzteschaft könne das ihr zur Verfügung stehende Geld nicht gerecht verteilen. HELMUT KÖRNGEN
[. . .] Der Blick in die echten Zahlen stimmt bedenklich.
Man/frau muss sie nur genau lesen. Nach diesen offiziellen Angaben hat bereits vor zwei Jahren der Umsatz aus der Versorgung von Kassenpatienten nur gut die Kosten einer Praxis gedeckt. 75 Prozent des Praxisgewinns kamen aus Studien (Patientenexperimente?) und den Einnahmen bei den Privatpatienten. Was passiert dann einem Arzt/einer Ärztin, der/die Pharmastudien für unmoralisch hält und in einem Bezirk arbeitet, der nur Kassenpatienten beherbergt? Nachdem die Kassenzahlungen in Berlin Jahr für Jahr sinken, leider nur noch die Pleite, und die leider erst nachdem die zwei oder drei ArzthelferInnnen als letze Sparchance entlassen wurden. BURKHARD BRATZKE
[. . .] Woher Ihre Kommentatorin ihre Zahlen nimmt, scheint sie nicht erwähnen zu müssen. Frau Rogalla unterlässt es auch, darauf hinzuweisen, dass auch von solch einem Einkommen noch Altersvorsorge, Krankenkasse und Steuern zu bezahlen sind. Gerade das dürfte zur Freude des Staats die Summe deutlich reduzieren.
[. . .] Es sind nicht nur die Herren der Kassenärztlichen Vereinigung, die den Niedergang des Solidarsystems beklagen. Hätte sie nicht gar so viel Schaum vor dem Mund und wäre sie auch einmal bereit, zuzuhören, so wüsste sie, dass auch Krankenkassenvertreter die Entsolidarisierung im Gesundheitssystem beklagen. [. . .]
MICHAEL AUMÜLLER
[. . .] Anstatt behutsam mit der ihnen anvertrauten Riesensumme umzugehen, betreiben nicht wenige Ärzte eine unverantwortliche Ausgabenpolitik, verschreiben zu viele und zu teure Medikamente und rechnen Leistungen ab, die sie nicht erbracht haben. Damit beschneiden sie auch rücksichtslos das Budget der Kollegen, die gemeinsam mit den Kassen versuchen, das Gesundheitswesen in Deutschland bezahlbar zu machen.
Auch der Ruf der Kassenärzte nach mehr Eigenverantwortung der Patienten ist nichts anderes als das Verlangen nach mehr Wohlstand auf Kosten der Kassenmitglieder, die mit bereits zu hohen Beiträgen und Zusatzzahlungen für Medikamente unzumutbare Eigenleistungen erbringen. [. . .]
Ich bin froh, einen Hausarzt zu haben, der mir trotz einer chronischen Krankheit bestens mit Rat und Tat zur Seite steht und die notwendigen Medikamente verschreibt, ohne dabei über Budgetnöte zu jammern. HANS KLOEP
[. . .] Es mag ja sein, dass es noch einige Ärzte gibt, die unmäßig viel verdienen; ich denke da besonders an die Chefärzte in Unikliniken, die zusätzlich zu ihrem satten Gehalt auch noch Privatliquidationen vornehmen dürfen. Im Übrigen aber ist die Ärzteschaft doch von genau der gleichen Einkommensspreizung betroffen wie die übrige Gesellschaft.
Die „Kiezärzte“ (und -ärztinnen) in Bezirken wie Friedrichshain, Kreuzberg oder im Wedding schrammen jedenfalls seit geraumer Zeit am Abgrund der Existenzvernichtung entlang. Dass es letztendlich zu Lasten der PatientInnen geht, wenn die Versorgung vor Ort zusammenbricht, dürfte wohl auch Frau Rogalla klar sein. [. . .] JULIA FISCHER
Ihr seid ja informationsmäßig auf dem Stand von vor 10 Jahren! Informiert euch doch bitte mal über die aktuelle Lage, bevor ihr so was schreibt! Übrigens gibt es tatsächlich auch noch Ärzte, die gut verdienen, nämlich da, wo viele Privatversicherte wohnen. Wie es da aussieht, wo es keine Privatversicherten gibt, im Osten, in Kreuzberg, im Wedding, das habt ihr offensichtlich noch nicht mitbekommen! [. . .] SVEA KELLER
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