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Nagels Kreuze

Im „Info-Cafée“ im ehemaligen Hafenkrankenhauses finden Obdachlose und Arme Kleidung, Essen, Trinken und Hilfe. Immer Nachmittags, sechs Tage die Woche  ■ Von Sandra Wilsdorf

Das Beste an Zeit ist, dass sie vergeht. „Irgendwie geht es immer weiter, man ist froh, wenn ein Tag und dann wieder ein Monat rum ist“, sagt Manfred Sip. Richtig froh ist er, wenn wieder ein Winter geschafft ist, wenn das Frühjahr kommt „und man in Planten un Blomen mal wieder auf einer Bank sitzen kann“. Aber bis dahin werden die Tage erst einmal immer dunkler, immer kälter, aber nicht kürzer. „Wir kommen eigentlich jeden Tag“, sagt Kurt Nagel.

Hier im „Info-CaFée mit Herz“, St. Paulis Begegnungsstätte im ehemaligen Hafenkrankenhaus, verbringen sie ihre Nachmittage. Von 14 bis 18 Uhr, sechs Tage die Woche, trinken sie hier Kaffee, essen Brötchen, Äpfel, Bananen, manchmal Salat, was gerade da ist.

Kurt Nagel und Manfred Sip sind seit fast drei Jahren gemeinsam obdachlos. Sie haben sich auf der Straße kennengelernt. Beide sind schon über 60, und beiden ist irgendwie das Gleiche passiert. „Unsere Frauen sind uns gestorben, und dann hatten wir mit dem Alkohol zu tun, und dann waren wir obdachlos“, erzählt Sip.

Nagel war über 30 Jahre verheiratet, 45 hat er beim Staat gearbeitet, „aber als ich das Saufen anfing, habe ich die Miete nicht mehr bezahlt.“ Bei 11.000 Mark Schulden ist er rausgeflogen. „Das kann jedem passieren.“

Die beiden gehen täglich dieselben Wege. Die Vormittage verbringen sie in einer anderen Einrichtung. „Da duschen wir, rasieren uns, waschen Klamotten und können unsere Sachen einschließen“, erzählt Sip. Da bekämen sie auch ein gutes Frühstück. Nachmittags dann sind sie hier. Oft kommen sie früher und bleiben länger, als das „CaFée“ geöffnet hat, denn „wir helfen mit“. Beim Aufbauen, Kaffee kochen und hinterher beim Aufräumen. Außerdem führt Kurt Nagel die Besucher-Statistik. Immer wenn jemand hereinkommt, setzt er seine Brille auf und sieht nach, ob er das Kreuz bei „Mann“ oder „Frau“ machen muss.

Nagel muss viele Kreuze machen, um die 80 arme und obdachlose Menschen kommen jeden Tag, neulich waren es auch schon mal 120. Aus der Kleiderkammer können sie sich Schuhe und Kleidung holen, die HamburgerInnen gespendet haben. Sie können essen und trinken, was die Hamburger Tafel gebracht hat, sie können reden, Beratung suchen oder sich einfach nur aufwärmen.

Das „CaFée mit Herz“ gibt es seit Januar 2000, seitdem sind 13.000 Gäste gekommen, im Schnitt sind es zehnmal so viele Männer wie Frauen. Betreiber des Cafés ist die Bürgerinitiative „Ein Stadtteil steht auf“, die sich 1996 gegründet hat, um die Schließung des Hafenkrankenhauses zu verhindern. Das ist ihr nicht gelungen, aber immerhin hat sich der Senat verpflichtet, auf dem Krankenhausgelände ein „Sozial- und Gesundheitszentrum“ einzurichten.

Holger Hanisch von der Bürgerinitiative arbeitet sechs bis sieben Tage die Woche für das Café – ehrenamtlich, wie alle hier. „Wir haben zwei Jahre lang Vorleistungen erbracht.“ Bisher sei noch keine öffentliche Mark in das Projekt geflossen. „Wir haben gezeigt, dass es einen Bedarf gibt.“ Jetzt hofft er darauf, dass die Sozialbehörde endlich zwei Stellen finanziert. Und er hofft auf weitere SpenderInnen und Sponsoren, damit der Bau der Begegnungsstätte auf dem Krankenhausgelände gelingt.

Denn dass hier Platz fehlt, ist offensichtlich. Immer voller wird es in dem Raum mit dem Wandbild und den vielen Pflanzen auf den Fensterbänken. Die Luft wird di-cker, das Brötchen- und Obstbuffet lehrt sich, der Raum noch nicht.

Kurt Nagel und Manfred Sip erzählen von ihren Wegen. Wenn das Café schließt, fahren sie wieder zurück zu der Stelle, an der sie übernachten. Sie schlafen im Zelt. Ungefähr eine Stunde von hier, mit Bahn und Bus. „Wir haben ja die Monatskarte.“ Noch sei es nicht einmal so kalt, dass sie das Zelt vorne zumachen müssen.

Sie schlafen auf dicken Matratzen, in Schlafsäcken und Jogginganzügen. „Nie in unseren Klamotten“, sagt Sip. Er riecht nach Rasierwasser, trägt Lederkappe, kariertes Hemd und ein Lächeln. Denn er hofft. „Seit zwei Wochen gehe ich jeden Tag zur BfA.“ Von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erhofft er sich endlich die Hinterbliebenenrente. „Und wenn ich die Nachzahlung bekomme, lege ich das gut an.“ In einem Wohnwagen. „Dann habe ich es warm und ein Dach über dem Kopf, dann ist Schluss mit Zelten.“ Ansonsten würde alles so weitergehen, wegen der Schulden.

Trotzdem sagt er: „Uns geht es nicht schlecht.“ Denn sie bekommen immerhin Rente. Nagel träumt davon, sich ein Gartenhaus zu kaufen. „Man hält das ja nicht ewig aus, einen Winter noch, vielleicht auch zwei.“

Ein anderer Mann, der nicht näher kommen mag, regt sich auf. Über die, die eine Wohnung haben und trotzdem kommen, die sich Brötchen einpacken und mit nach Hause nehmen. „Die haben doch alles und laden sich hier die Taschen voll“, beklagt er sich. Die Hierarchie derer, die nichts und derer, die fast nichts haben. „Ich habe doch auch 25 Jahre gearbeitet.“ Aber wenn man Jahrzehnte in der Planwirtschaft war, könne man sich eben nicht so schnell umstellen. „Wir alle hier würden doch lieber zu Hause sein.“ Aber das geht nicht“, fügt er leiser hinzu.

Er gibt eine Kostprobe seiner Bitterkeit, erzählt von der Stelle, an der er „Platte macht“. Irgendwo in der Innenstadt. „Weil ich mich da noch einigermaßen sicher fühle und ein Dach über mir habe.“ Damit der Schlafsack nicht immer so nass wird. Dafür kann er sich erst gegen 23 Uhr hinlegen. Und manchmal wird er da mit Bierdosen beworfen. „Von Jugendlichen, was wollen die denn?“ Ihn behandeln wie den letzten Dreck.

Ein Mann kommt herein, mit zwei Plastiktaschen in der Hand. Er redet mit niemandem, setzt sich an einen der Tische mit gelber Tischdecke und schlägt ein Buch auf. Nach etwa einer Stunde geht er wieder, hat mit niemandem geredet, nur gelesen.

Sven redet nur, wenn man ihn fragt. Er wird irgendetwas in den Dreißigern sein, ihm ist „es“ vor acht Jahren „passiert“. Dass er auch mithilft beim Aufräumen im Café, erzählen die anderen. „Betteln gehe ich auf keinen Fall, es ist schon schlimm genug, dass ich auf andere angewiesen bin.“ Er will kein Bittsteller sein, „die 100 Mark Sozialhilfe pro Woche müssen reichen“. Obwohl sie das natürlich nicht tun. „Ich habe meine Ecken und verliere kein Wort darüber.“

Irgendwann in den acht Jahren hätte es noch einmal klappen können, „aber jetzt ist alles hin, alles hin“. Er starrt seinen Worten hinterher. Dann sagt er, dass er jedenfalls nicht darüber lachen würde, wenn ihm ein 24-Jähriger erzählen würde, dass er keine Arbeit finde. Er sieht nicht so aus, als würde er über irgendetwas lachen. „Im Grunde lebt man doch nur so für sich allein in den Tag hinein, und es gibt doch keinen Ort, wo man sich länger aufhält.“

Er kommt fast jeden Tag ins „CaFée mit Herz“, aber „nicht aus Bock und Langeweile, sondern weil ich darauf angewiesen bin“. Das ist Harald auch. Obwohl er ein Zimmer hat. „Aber das habe ich nur über das Gesundheitsamt bekommen.“ Er will nicht in den Knast, deshalb zahle er von seiner Sozialhilfe lieber die Schulden ab. Fürs Essen reicht es dann eben nicht mehr. Deshalb isst er hier.

„Perspektiven hat hier doch keiner, solange das mit den Schulden nicht geregelt ist“, sagt Kurt Nagel. Denn ohne Schulden keine Wohnung, ohne Wohung keinen Job. „Viele trauen sich gar nicht mehr zu den Behörden.“ Und das mit dem Trinken, „ja warum trinkt man denn? Doch nur, um mal kurz zu vergessen“, sagt Sip.

Denn wenn man nicht denkt, vergeht die Zeit ganz von alleine. Und dann ist vielleicht wieder ein Tag, ein Monat, ein Winter vorbei. „Im Sommer fahren wir manchmal nach Finkenwerder, manchmal zwei-, dreimal hintereinander“, erzählt Manfred Sip. „Da machen wir Bekanntschaften und hinterher sind wieder ein paar Stunden rum.“

Das „Info CaFée mit Herz“ in der Seewartenstraße 10 hat montags bis sonnabends von 14 bis 18 Uhr geöffnet und ist auf Kleider-, Kaffee-, und besonders Geldspenden angewiesen: HASPA Kontonummer 1206-123596, BLZ 20050550, Stichwort: HKH-Begegnungsstätte.

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