piwik no script img

Mehr Bier

„Enge im Haus und im Sarg“: Das Obdachlosentheater Ratten 07 spielt ein Antimärchen von Kristof Magnusson

Ich will auch ein Bier. Gleich vier Berliner Jubiläums Pilsener lümmeln auf der Bühne, von zugehörigen Trinkern zärtlich bekennend umfasst. Die Stars des Abends sind dem Rausch nicht abgeneigt, der verordneten Lebensführungsnormalität dafür umso mehr. Man solle zusammenrücken, er fühle unsere Solidarität, ruft einer von der Bühne launig ins Publikum, und mir wäre zweifellos noch ein bisschen solidarischer zumute mit einer Dose in der Hand. Das Unbehagen: Gucken wir Theater oder Obdachlose?

Die Ratten 07 verfügen über den Trumpf des theatralen Mehrwerts. Sie stellen alles doppelt zur Schau, eine Rolle und das Soziale dahinter. Und dieses Dahinter spielen sie in den Vordergrund, mit herausfordernder Lautstärke oder feinem Understatement, in Kostümen, die weniger verkleiden als unterstreichen, und ebenjenem nonchalanten Verhältnis zur Welt jenseits des Theaterscheins, zu der nun mal das Dosenbier gehört.

„Enge im Haus und im Sarg“ heißt das verschlungene Antimärchen des jungen Stückeschreiber Kristof Magnusson, das die Ratten unter der Leitung von C&A (Christine Umpfenbach und Antje Wenningmann) auf die kleine Bühne unterm Dach der Volksbühne bringen. Vom Wald im zeitlosen Staat der Königin switcht die Handlung in die Großstadt der Gegenwart. Im Kunstrasengrünen warten fünf Jäger auf Wild, von dem sie wissen, dass es niemals vobeihoppeln wird. Bezahlte Beschäftigte ohne sinnvolle Beschäftigung, denen die Königin auch noch das Denken verbieten will.

Auf irgendeiner Straße schälen sich indes zwei verkaterte Jungs aus den Schlafsäcken. Gemeinsam mit vier Punk-Mädchen machen sie sich auf die Suche nach einer vermissten Freundin – der gleichen Prinzessin, deren Verschwinden die resignierten Jäger im Wald betrauern.

Dass Magnussons „Enge“ Fragen der Identität und Freiheit, Gewalt und Liebessehnsucht verhandeln will, schimmert nur schwach und verschroben durch Stück und Inszenierung. Auf der Schwelle vom Symbolischen zum Improvisierten leuchten sie aber dennoch plötzlich auf, etwa wenn Jäger Jesse (Frederic) in ausführlich nuschelnder Harmlosigkeit von seinen Tötungsexperimenten mit Katzen erzählt. In Heinz’ Anekdote von der zu fett und faul gewordenen Vogelart, die krepieren muss, weil alle einsam in Sandlöchern sitzen und „ficken!“ schreien. Oder in der rast- und ratlosen Leere, die immer wieder einzubrechen droht, wenn niemand spricht oder alle brüllen: Das sind Momente der Verunsicherung, an denen man sich ausnahmsweise besser festhalten kann als an Antworten oder einem kühlen Getränk. EVA BEHRENDT

Die nächsten Aufführungen: am 18., 23., 25. und 29. 11., jeweils 20 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 3. Stock

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen