: Wo Pose war, soll Ich werden
Heute erhält Rainald Goetz den mit 50.000 Mark dotierten Wilhelm-Raabe-Preis in Braunschweig. Damit schreitet seine Kanonisierung zum modernen Klassiker voran. Die Umarmungsgeste des Betriebs trifft auf ein erwachtes Interesse des Autors an der Literaturszene als sozialem System
von DIRK KNIPPHALS
Als dem Schriftsteller Rainald Goetz die Nachricht überbracht worden war, er werde den Wilhelm-Raabe-Preis des Jahres 2000 erhalten, soll er sofort in eine Buchhandlung geeilt sein, um kleine, gelbe Reclam-Heftchen zu kaufen. Erst mal Wilhelm Raabe lesen.
Ob die Anekdote stimmt oder nicht, ist egal; man glaubt sie sofort. Weil Rainald Goetz neben den vielen anderen Rollen, die er innehat, auch die des am härtesten arbeitenden Mannes der deutschen Literatur ausfüllt, und zwar problemlos. Wo andere Autoren sich mit dem Studium eines Lexikonartikels begnügt hätten, vertieft er sich in die Raabe-Lektüre. Er soll übrigens beruhigt gewesen sein, als er feststellte, dass Raabe, wie er selbst ja auch, ausdauernd Notizbücher voll geschrieben und Tagebücher geführt hat. 50.000 Mark überwiesen bekommt jeder gern. Aber wohler in seiner Haut fühlt man sich wahrscheinlich schon, wenn man als Preisträger zumindest irgendeine literarische Verwandtschaft mit dem Namenspatron vorweisen kann. Beim Büchner-, Kleist- oder Döblin-Preis mag das zur Not immer noch angehen. Aber bei Raabe? Wer, zum Teufel, war noch mal Wilhelm Raabe?
Heute Abend also wird Rainald Goetz dem Intendanten des Deutschlandradios sowie Braunschweiger Würdenträgern Auge in Auge gegenüberstehen, um aus ihrer Hand den wieder ins Leben gerufenen großen Literaturpreis der Stadt überreicht zu bekommen. Im Umfeld der Veranstaltung sind durchaus Begleitumstände zu verzeichnen, die einen schmunzeln machen. So mussten, wie zu hören war, auf besonderen Wunsch des Preisträgers entscheidende Veränderungen am Ablauf der Ehrung vorgenommen werden.
Eine Laudatio zum Beispiel, sonst zusammen mit der Dankesrede sozusagen die Predigt in so einer Preisliturgie, wird es nicht geben. Stattdessen wird der FAZ-Autor Jürgen Kaube einen Vortrag halten, in der, so die Sprachregelung, auch die Bücher von Rainald Goetz vorkommen. Irgendwo im Hinterkopf will sich die Ansicht regen, dass es hier gar nicht um die Frage geht, ob sich Rainald Goetz als geeigneter Preisträger erweist, sondern darum, ob sich der Peis als würdig erweist, Rainald Goetz zu ehren. Als musikalische Untermalung hat er sich im Übrigen kein Techno ausgesucht. Stattdessen Schubert! Op. 142.2 sowie op. 90.4. Wegen solcher Details sind Rainald-Goetz-Fans glückliche Menschen; er weiß einen eben immer zu überraschen.
In der Tat hat der Preis – von den Nazis zutiefst diskreditiert, in der Bundesrepublik zuletzt auf den Hund gekommen, 1990 zwischenzeitlich abgeschafft, nun durch eine Kooperation der Stadt Braunschweig mit dem Deutschlandradio wieder ins Leben gerufen – einen überzeugenden Neuanfang bitter nötig. Ihn zu garantieren, wurde eine Jury eingesetzt, der unter anderem so bekannte Kritiker wie Hubert Winkels vom Deutschlandradio, Eberhard Rathgeb von der FAZ, Andrea Köhler von der Neuen Zürcher Zeitung sowie der Literaturprofessor Heinrich Detering angehören.
Dass sie sich also als ersten und damit programmatischen Preisträger für Rainald Goetz entschieden haben, verrät, gerade weil der Preis sich neu profilieren muss, etwas über die eigentümliche Stellung dieses Autors in unserer Literaturlandschaft. In etwa lässt sich das Kalkül der Jury ja wohl so rekonstruieren: Kein anderer Schriftsteller, solche Argumente werden gefallen sein, steht nun schon so lange in dem Ruf, stets vorne dran zu sein (wo immer das nun sei), wie Rainald Goetz. Da wir nun wahrlich genug Literaturpreise haben, die das Rückwärtsgewandte und die Nachhutgefechte prämieren, erzielt man mit so einem Preisträger hübsche Distinktionsgewinne. Und zwar ohne das Risiko einzugehen – man weiß ja nie –, auf eine saisonale Eintagsfliege gesetzt zu haben.
Scheint so, dass die Aktien dieses Autors im Literaturbetrieb derzeit wieder steigen. Mülheimer Dramatikerpreis für das Theaterstück „Jeff Koons“. Nun: Hallo, Braunschweig. Das Bild, das man sich von diesem Autor macht, verschiebt sich offenbar gerade. In seinen Anfängen wurde er als sehr zorniger, junger Mann verstanden, wogegen alle Rebellion, die Goetz gegen dieses einordnende Denken veranstaltete, nichts half. Dann gab man ihn beinahe verloren; Goetz, so ging die Rede, sei lost in music in den Funstahlbädern des Techno. Eine Phase, die sich nun, da Goetz sie in der Erzählung „Rave“ verarbeitet hat, fast wie ein klassisches Bildungsprogramm begreifen lässt: Mache Erfahrungen im gelobten Land und gestalte sie dann literarisch.
Die Welt des Techno, Plattenkisten schleppen für Sven Väth inklusive, wäre nach dieser Lesart sein Italien. Und siehe: Während die Love Parade gerade zum Karneval verkommt, wird man dereinst, was ein Rave war, bei Rainald Goetz nachlesen. Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Jedenfalls liest sich die knappe Begründung in der Pressemitteilung des Preises so, als solle Goetz zum modernen Klassiker hochgejazzt werden. Das Ganze hat durchaus etwas von einer Gründungsakte für eine neue Goetz-Rezeption. Der Schriftsteller, so heißt es da, sei „zweifellos einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der mittleren Generation“. Es ist von einem „Gattungsgrenzen immer wieder sprengenden Werk“ die Rede, das „in seiner Vielfalt, in seinem radikalen Subjektivismus und seiner Forminnovation beispielgebend für viele Autoren und bereits fester Bestandteil der deutschen Nachkriegsliteraturgeschichte“ sei.
Auch wenn man hier ein gerüttelt Maß an Germanistenprosa abzieht, zielt diese Begründung doch in eine ganz bestimmte Richtung. „Bedeutender Autor“, „mittlere Generation“, „Nachkriegsliteraturgeschichte“: Nach Teen Spirit riecht das nicht mehr. Goetz, da hilft alles nichts, wird in Braunschweig den Ritterschlag zum kanonisierten Autor erhalten. Die Zeiten, in denen er vom Rande her in den Betrieb hineinwirkte, sind also vorüber. Nun wird er ins Zentrum unserer Literaturlandschaft hineingerückt.
Und warum auch nicht? Auch wenn eine solche Umarmungsgeste von Seiten des Betriebs gerade bei diesem Autor auf der Oberfläche etwas Ironisches und auf irgendeiner Ebene drunter auch zunächst was Trauriges hat: Sie war wohl fällig, sosehr Goetz auch in den Achtzigerjahren den Betrieb als Lügenveranstaltung beschimpfte. Und: So ganz unriskant ist diese Geste ja gar nicht. Viele Kritiker blamieren sich schließlich weiterhin mit der Ansicht, Goetz würde formlos die Banalitäten unserer Gegenwart abschreiben. Da erhöht sich doch die Bereitschaft, Ritualen, in denen das Formbewusstsein dieses Autors anerkannt wird, manchen merkwürdigen Beigeschmack nachzusehen.
Zumal auch bei Rainald Goetz selbst ein Zugehen auf die Veranstaltungen rund um Texte zu konstatieren ist. Nicht nur, dass er sich – früher undenkbar – seit einem Jahr praktisch permanent auf Lesereise befindet, zunächst für das „Abfall für alle“-Buch, dann im Rahmen der Feierlichkeiten um das fünfzigjährige Suhrkamp-Jubiläum. Darüber hinaus beschreibt er in der im Frühjahr herausgekommenen Erzählung „Dekonspiratione“ Lesungen gleich mehrfach. Wer immer den Verdacht hegen sollte, dass Goetz’ Interesse an solchen Veranstaltungen einer schlichten Kosten-Nutzen-Kalkulation entspringt, wird hier eines Besseren belehrt. Er hat vielmehr Lesungen als hochkomplexe soziale Situation und, so sie denn gelingen, auch als Quelle von Glück entdeckt.
In den einschlägigen Szenen von „Dekonspiratione“ ist förmlich mit Händen zu greifen, wieviel Aufmerksamkeit Rainald Goetz den Interaktionen von Lesendem und Publikum widmet; weiter gedacht bedeutet das, dass er den Betrieb gar nicht mehr pauschal ablehnen kann. Er muss eben nur versuchen, die jeweilige Veranstaltung der Routine zu entreißen, zu seiner eigenen zu machen und in ein direktes Verhältnis zum Publikum zu treten. Aber was heißt hier: nur?
Das ist – wer je auf einer Goetz-Lesung war, weiß das – schwierig genug. Wenn es misslingt, scheint Goetz geradezu körperlich darunter zu leiden. Literarische Posen hat er früher als verlogen bezeichnet – und sie doch mit Gegenposen wie dem inzwischen legendären Klagenfurter Stirnschnitt getoppt; nun sieht er es als seine eigene Aufgabe an, in der jeweils konkreten Situation aus ihr herauszutreten. Wo Pose war, soll Ich werden. Es spricht einiges dafür, dass nicht nur der Betrieb sein Bild von Rainald Goetz, sondern dass zugleich Goetz selbst seinen Entwurf von sich geändert hat. Mag sein, dass er nun seine Künstlerexistenz nicht mehr im Bild eines einsamen Schreibtischtäters spiegelt – bis hin zum Roman „Kontrolliert“ verstand sich Goetz durchaus wörtlich zu nehmen als Schreibterrorist –, sondern in der Figur des DJs. Dessen Handwerk des Plattenauflegens hat Goetz in einer berühmten Szene als soziale Kunst beschrieben: Das „Schauen“ des DJs auf das Publikum, sein prüfendes Checken, ob das, was er treibt, auch tatsächlich ankommt, erscheint hier als mindestens so wichtig wie die musikalischen Kenntnisse.
Vielleicht wird ja irgendwann nicht nur der Text selbst, sondern auch die öffentliche Darbietung des Textes zu seiner Party. Goetz, so scheint es, arbeitet dran. Und der Literaturbetrieb möglicherweise auch. Heute in Braunschweig.
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