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Demokratische Vision

HOCHSCHULEN IN DER KRISE (2): Die deutschen Hochschulpolitiker wollen nur Fachleute ausbilden, die europäischen Bildungsminister setzen dagegen auf den mündigen Bürger

Die europäischen Bildungsminister erwarten, dass ein freies Studium unabhängiges Denken vermittelt

Man glaubt es kaum, aber auch die Europäische Gemeinschaft kann innovativ sein: So haben die EU-Bildungsminister sich 1999 in ihrer Erklärung von Bologna klar für eine neue Organisation des Hochschulstudiums ausgesprochen. Danach soll das Studium in ganz Europa zwei Stufen haben. Die erste Stufe würde nach drei oder vier Jahren mit dem Grad des Bachelors (B.A.) abschließen, die zweite das zweijährige Graduierten-Studium umfassen und mit dem Magister (M.A.) oder der Promotion enden. Die europäischen Bildungsminister unterstreichen damit die Bildungs- und Ausbildungsfreiheit. Jeder soll selbst entscheiden, ob er die Hochschule mit dem B.A. verlässt oder sein Studium fortsetzt.

Was aus dieser Empfehlung hierzulande folgt, ist allerdings ungewiss. Denn nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrats und der Konferenz der Kultusminister (KMK) müssten die Bildungsmöglichkeiten den Erfordernissen des Arbeitsmarktes angepasst werden. Die wichtigen hochschulpolitischen Interessengruppen in Deutschland greifen zwar die europäischen Vorschläge zur Zweiteilung des Studiums auf, integrieren sie dann jedoch in ihre veralteten Bildungsvorstellungen. Dabei gelangen der Wissenschaftsrat und die KMK zu Forderungen, die den Bildungs- und Berufsinteressen der Studierenden widersprechen – und den europäischen Bildungszielen auch.

Der Wissenschaftsrat fordert also, was er schon seit Jahrzehnten vertritt: Die Fachhochschulen sollen ausgebaut werden „mit dem Ziel, einen wesentlich höheren Anteil der Absolventen in kürzeren, berufsbezogenen Studiengängen auszubilden“. Aber nicht nur das. Solche Fachhochschulstudiengänge sollten nun sogar an den Universitäten eingerichtet werden. Die Mehrheit der Studenten müsste sich dann mit dem Fachhochschulstudium begnügen. Das Universitätsstudium in der bisherigen Qualität und Dauer soll nur noch einer Minderheit offen stehen. Der Wissenschaftsrat will demnach die Zweiteilung des Studiums dazu benutzen, der Hochschulexpansion entgegenzuwirken. Und genau das möchte auch die Kultusministerkonferenz.

Der Vorstellungen von Wissenschaftsrat und KMK stehen also denen der europäischen Bildungsminister entgegen. Drei Gegensätze stechen hervor:

(1) Die deutschen Bildungspolitker wollen die Hochschulen an die Nachfrage nach Arbeitskräften anpassen. Die europäischen Bildungsminister folgen dagegen einer demokratischen Vision: Die Hochschulen sollen der freiheitlichen Wertordnung zu größerer Wirksamkeit in der Gesellschaft verhelfen.

(2) In Deutschland soll es bei dem Nebeneinander unterschiedlicher Studiengänge bleiben. Ein umfangreicher für die Berufspraxis soll neben einem kleinen für Wissenschaft und Forschung stehen. Die europäischen Bildungsminister gehen hingegen von der Einheit der Wissenschaft aus und wollen eine einheitliche Hochschule mit zwei Stufen.

(3) Die Deutschen nähern sich dem Gedanken einer bildungsökonomischen Bedarfsplanung. Die europäischen Bildungsminister setzen auf das Bildungsinteresse freier Bürger.

Die Nachfrage nach Arbeitskräften taucht in der europäischen Erklärung nicht auf. Die Universitäten sollen zur Bildung unabhängiger Bürger beitragen und nicht einem wissenschaftlichen Berufsstand dienen, der Exklusivität beansprucht. Als Ziele der Hochschulentwicklung werden genannt: „die gesellschaftliche und menschliche Entwicklung“, „die Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft“, das „Bewusstsein gemeinsamer Werte“, „Fortschritte der Wissenschaft“, „Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems“, zivilisatorische „Vitalität und Effizienz“.

Tatsächlich stimmen die freie wissenschaftliche Kultur und die Demokratie in ihren bürgerlichen Wertorientierungen überein. Beide verlangen persönliche Disziplin, die Voraussetzung unabhängigen Denkens ist. Dazu gehört etwa Autonomie im Umgang mit den eigenen inneren Impulsen und mit äußeren Mächten, von denen suggestiver Einfluss ausgeht. Beide verlangen Toleranz, Sachlichkeit, Kommunikationsfähigkeit und „Teamfähigkeit“. Diese Tugenden kann man sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jeglichem Gegenstand aneignen, sofern Lehre und Lernen frei und nicht verschult sind. Deswegen erwarten die europäischen Bildungsminister zu Recht, dass das freie wissenschaftliche Studium eines Fachgebiets auch freie Bürger bildet. Die Bildung unabhängiger Bürger, die in einer Fachdisziplin kompetent sind, benötigt nur einen Hochschultypus. Die alte Unterscheidung zwischen der unabhängigen Universität und dem staatlich kontrollierten Fachschulwesen ist ohnehin bereits verwischt. Die elitären Universitäten von einst haben sich mit der Demokratisierung der Gesellschaft geöffnet, ihre feudale Wissenschaftsfreiheit von einst hat sich in der Demokratie im Sinne der Bürgerrechte entwickelt. Die Wissenschaftsfreiheit kam auch bei den Fachhochschulen voran. Sie haben sich damit der Universität angeglichen.

Im Gegensatz dazu wollen Wissenschaftsrat und KMK jedoch an zwei Typen von Studiengängen festhalten: Das Fachhochschulstudium sei der beruflichen Praxis näher als die Universität, die wiederum für Lehre und Forschung ausbilden würde. Diese Unterscheidung beruht jedoch auf einem Irrtum. Die Universität hat stets überwiegend Praktiker ausgebildet. Das waren früher einmal Staatsdiener, die sich als Elite verstanden. Sie bestanden darauf, dass die Übrigen sich an den weniger ansehnlichen Fachschulen ausbilden sollten. Die europäischen Bildungsminister teilen solche elitären Ordnungsvorstellungen nicht.

Wissenschaftsrat und Kultusminister wollen die Hochschule den Wünschen des Arbeitsmarktes anpassen

Zu Recht. Denn die Wirtschaft ist auf eine bildungsökonomische Bedarfsplanung des Staates nicht angewiesen, und schon gar nicht auf eine Einschränkung der Hochschulexpansion. Das zeigt ein Blick zurück. Die Hochschulexpansion in der Bundesrepublik folgte im Wesentlichen der Nachfrage der Studierenden. Ungeplant hat sich dadurch die Studentenquote seit den 50er-Jahren vervielfacht. Der Arbeitsmarkt ist deswegen aber nicht in eine Krise geraten. Die Arbeitslosenrate der Hochschulabsolventen beträgt zum Beispiel nur einen Bruchteil der durchschnittlichen Quote bei anderen Arbeitnehmern. Die Hochschulabsolventen verstehen es offensichtlich, ihre Qualifikationen in der Arbeitswelt zur Geltung zu bringen. Und ebenso verstehen es die Unternehmen, davon Gebrauch zu machen. Dabei zahlen sie den Hochschulabsolventen höhere Gehälter als allen anderen. Die Hochschulexpansion wurde nur in den staatssozialistischen Ländern im Namen des wirtschaftlichen Qualifikationsbedarfs stranguliert.

Würden die Forderungen von Wissenschaftsrat und KMK realisiert, ergäbe sich also zweierlei: Die Bildungsmöglichkeiten würden zum Nachteil aller verschlechtert. Und wir würden uns von der europäischen Bildungsentwicklung entfernen, statt ihr näher zu kommen.

GERO LENHARDT

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