Leben auf dem Totenfeld

Sie entkamen dem Schlamm und besetzten Land. Doch ein Alteigentümer stellte Ansprüche – bis deutsche Politiker auf Besuch kamen

aus El Tanque TONI KEPPELER

Nicaragua ist das Land der großen Naturkatastrophen und der kleinen Hoffnungen. Da war das Erdbeben von 1972, bei dem die Hauptstadt Managua zerstört wurde und mehr als 10.000 Menschen ums Leben kamen. Da waren Seebeben, Vulkanausbrüche, Dürrezeiten. Und da war die Hoffnung, dass mit der sandinistischen Revolution ein neues, ein ganz anderes Nicaragua entstehen könnte.

Diese Hoffnung ist längst verschwunden. Die Naturkatastrophen aber sind geblieben.

Noch heute steht auf dem Casita, dem Vulkan, dessen Nordwand vor zwei Jahren nach Tagen von Regen abbrach und ins Tal stürzte, kaum ein Baum. Ganz langsam wächst die riesige graue Schneise, die von der Schlammlawine in den Hang gezeichnet wurde, wieder zu. Nur noch ganz oben, wo es steil hinauf zum gezackten Gipfel geht, sieht die Spur des Todes noch immer so aus wie vor zwei Jahren. Doch weiter unten, wo das Schlammfeld der Natur überlassen wurde, wuchert schon wieder Gras und Gestrüpp. Und zehn Kilometer weiter, in der Ebene, da gibt es ein kleines bisschen Hoffnung.

Der Ort heißt El Tanque, „der Tank“. Oder auch: „der Panzer“. Niemand weiß so recht, warum. Es steht kein Tank dort und auch kein Panzer, sondern so etwas wie eine große Schrebergarten-Siedlung. 167 Häuschen und um jedes ein Hektar Land. Bananenstauden, Mais, Gemüse. 825 Menschen leben dort. 795 von ihnen überlebten die Casita-Lawine. Die restlichen 30 wurden in El Tanque geboren. Die kurze Geschichte des Dorfes ist die Geschichte des heutigen Nicaragua. Sie erzählt, wie aus einer Naturkatastrophe und inmitten politischer Verantwortungslosigkeit doch noch ein bisschen Hoffnung entstehen kann.

Die Menschen, die heute in El Tanque wohnen, waren in den Tagen nach der Katastrophe zunächst wie alle anderen Überlebenden in provisorischen Auffanglagern untergebracht worden. In Schulen, in leer stehenden Fabrikhallen, unter Plastikplanen entlang der panamerikanischen Straße. Ein paar hundert von ihnen leben noch immer unter solchen Bedingungen. Nur diejenigen, die in Schulen untergebracht worden waren, mussten zum Jahreswechsel raus. Egal wohin. Ein paar hundert besetzten das Landgut El Tanque.

Sie kamen in der Nacht des 27. Dezember 1998, mitten in den Weihnachtsferien, als die Politiker irgendwo am Strand lagen und sich bräunten und nicht sofort reagieren konnten. „Zuerst waren wir nur Männer. Denn wir wussten, dass es Auseinandersetzungen geben kann und vielleicht auch Tote“, erzählt Fredy Avendaño. Denn wie so oft in Nicaragua war es völlig unklar, wem der Boden eigentlich gehörte, der da besetzt worden war. Genutzt wurde er von Unapa, einem Dachverband von Kooperativen, die der sandinistischen Landarbeitergewerkschaft ATC nahe stehen.

„Wir bauten sofort Notunterkünfte“, sagt Avendaño. Ein paar Prügel in den Boden gerammt, Plastikplanen darüber gezogen, mehr war das nicht. „Nach drei Monaten haben wir unsere Familien nachgeholt.“ Es war damals noch lange nicht sicher, dass sie bleiben konnten. Denn es hatte sich ein Mann gemeldet, der behauptete, El Tanque gehöre ihm.

Dieser Mann ist Silvio Argüello, der unter dem Diktator Anastasio Somoza Parlamentsabgeordneter, Wirtschaftsminister und Vizepräsident war. 1979, nach dem Sturz Somozas durch die Sandinisten, wurde er enteignet. Er ging in die USA ins Exil, nahm zur nicaraguanischen auch die dortige Staatsbürgerschaft an, kam nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 zurück und forderte nun sein damaliges Eigentum zurück. Diese Forderung hat Gewicht. Sie wird von der US-Botschaft in Managua unterstützt. Schließlich handelt es sich um einen Bürger der Vereinigten Staaten, der da enteignet wurde.

In Nicaragua gibt es tausende solcher Forderungen von Alteigentümern, und es wird wohl noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die Gerichte alle Fälle abgearbeitet haben. Den Besetzern von El Tanque drohte eine lange Zeit der Unsicherheit. Überleben konnten sie, aber mehr auch nicht. Von Anfang an kümmerte sich die Hilfsorganisation medico international um die Davongekommenen der Casita-Katastrophe. Mit Medikamenten, mit psychologischer Betreuung, mit Lebensmitteln. Allein, die Hilfe hatte ihre Grenzen: „Auch wenn wir Geld für mehr hatten, mehr durften wir nicht tun“, sagt Walter Schütz, der seit mehr als zwanzig Jahren für medico in Nicaragua ist. Schließlich war das eine illegale Landbesetzung.

Mitte Mai 1999 besuchten die deutschen Bundestagsabgeordneten Karin Kortmann, Albrecht Papenroth und Christian Ströbele Nicaragua und trafen dabei auch die Besetzer von El Tanque. Sie waren empört. Die Überlebenden der weltweit bekannt gewordenen Katastrophe hausten noch immer unter Plastikplanen. Und dann sagte Schütz auch noch: „Ich habe eine Million Mark, aber ich kann nichts damit tun.“

Die Abgeordneten schlugen Alarm. Sie gaben eine Pressekonferenz, sprachen von verschlampten Hilfsgeldern für „Mitch“-Opfer und von Korruption. Das wirkte. Denn kurz darauf wollte der nicaraguanische Präsident Arnoldo Aleman bei einer Geberkonferenz in Stockholm weitere Millionen eintreiben. Noch im Mai legte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 1,2 Millionen auf die Million von medico. Und schon am 2. Juni forderte die nicaraguanische Regierung die deutsche Botschaft auf, in El Tanque mit einem integrierten Wohnprojekt für 167 Familien zu beginnen. Die Eigentumsfrage werde schnellstmöglich geregelt.

Sie wurde geregelt. Auf sehr nicaraguanische Art. Argüello wurde abgefunden, obwohl er für sein altes Eigentum eher hätte bezahlen müssen. Er hatte das Landgut 1978 bei der Staatsbank mit Hypotheken belastet. Inklusive Zinsen würde sich seine Schuld heute auf rund neun Millionen Mark belaufen. Mehr, als El Tanque wert ist. Doch Schwamm drüber. Argüello bekam Geld.

Auch mit dem Kooperativendachverband Unapa, der das Gelände nutzte, wurde ein nicaraguanisches Geschäft abgeschlossen. Er bekam Besitzurkunden über andere Ländereien, wenn er im Gegenzug gut 300 Hektar dem Staat überlässt. Der Staat wiederum hat sich in einem Dekret vom 13. Juli 2000 verpflichtet, das Gelände den 167 Familien von El Tanque zu übergeben. Dieser Schritt fehlt zwar noch, aber eigentlich kann nichts mehr passieren.

Bis es so weit war, standen schon 167 Fertighäuser auf dem Gelände. Jedes mit einem Hektar Land drum herum, bepflanzt vorwiegend für den Eigenbedarf. Demnächst soll jede Familie ein weiteres Hektar bekommen. Dann kann auch etwas verkauft werden. Der Boden ist exzellent. „Sieben Meter Löss“, schwärmt Schütz. Darunter sauberes Grundwasser in Fülle. Wenn bewässert wird, gibt das zwei Ernten im Jahr. Und bei zwei Hektar Land pro Familie bringt das ein monatliches Einkommen von fast 400 Mark. Das ist viel für einen Kleinbauern in Nicaragua.

Bislang teilen sich je zwei Häuser einen kleinen Brunnen im Handbetrieb. Doch entlang der Wege sind schon Gräben für Wasserleitungen gezogen. Auf dem Gelände gibt es drei alte tiefe Brunnen. An zwei wurden bereits mit Sonnenkraft betriebene Pumpen installiert. Spätestens Anfang nächsten Jahres haben die Bewohner von El Tanque fließendes Wasser im Haus. Ein nie gekannter Luxus. „Oben auf dem Casita war das Wasser knapp“, erzählt Avendaño. „Wir sind mit dem Ochsenkarren zur nächsten Quelle, fünf Kilometer Weg. Dort haben sie das Wasser für eine Mark das Fass verkauft.“ Bewässerung war so nicht möglich, und also gab es auch keine zwei Ernten im Jahr.

Und trotzdem: „Von meinen vierzig Jahren habe ich achtunddreißig dort droben verbracht. Ob ich will oder nicht. Ich hänge da dran. Das ist meine Heimat.“ Erst wollte er nie wieder hin. Aber dann, nach ein paar Monaten, war er doch dort. Stand auf dem festgebackenen Schlamm. Wusste: unter ihm liegen 2.500 Tote. Fünfundzwanzig davon waren seine Onkels, Tanten, Vettern und Basen. „Irgendwie spürt man ganz seltsam, dass etwas da ist.“ Und ein bisschen Scham darüber, dass man selbst noch lebt. „Ich hatte so ein Glück. Ich lebte in der Nähe eines Baches. Wir hatten die Kinder schon weggebracht, weil der Bach immer mehr angeschwollen war. Die Nachbarhäuser wurden von der Schlammlawine begraben. Mein Haus ging in den Wassermassen des Bachs unter. Ich und meine Frau, wir konnten uns gerade noch retten.“

Unten in der Ebene, aus zehn Kilometer Entfernung, sieht der Casita klein und harmlos aus. Avendaño schaut hinüber und redet. Gedankenverloren. So, als stünde niemand bei ihm. „Hier unten sind wir sicher. Hier kann nichts passieren. Aber immer, wenn es regnet, hat meine Frau Angst. Sie glaubt, der Berg kommt noch einmal herunter. Sie weint. Frauen sind so. Sie fühlen stärker als wir. Sie weinen.“ Avendaño will nicht weinen. „Gehen wir doch zum Dorfplatz“, schlägt er vor.

Dort wird noch immer gebaut. Das offene Versammlungshaus mit Palmdach ist schon fertig. Schule, Krankenstation und Lagerhalle auch. Auch das Haus der Kooperative für Produktionskredite, Fortbildung und Vermarktung, in der sich 122 der Familien zusammengeschlossen haben. Es ist das einzige mit Solarstrom und Telefon. Und natürlich gibt es schon ein Baseball-Feld am Ende des Platzes. Ohne Baseball-Feld ist ein nicaraguanisches Dorf kein Dorf.

Jetzt wird an einer Gemeinschaftsküche gebaut. Und der Platz für eine Kirche ist auch schon vorgesehen. Aber besser, man spricht dieses Thema nicht an. In El Tanque gibt es Katholiken und Anhänger von drei unterschiedlichen evangelikalen Kleinkirchen. Bevor es Streit gibt, bleibt der Platz besser frei.

Warum sollte man sich auch Hoffnung aus dem Jenseits holen? Ein bisschen davon gibt es auch auf der Erde.