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Eine Überdosis Unkenntnis

Symposium zur polnisch-deutschen Migration: Wilhelmsburg war schon im 19. Jahrhundert das Viertel für Zuwanderer – damals waren es die Arbeiter aus Osteuropa  ■ Von Petra Schellen

Sie ist ein beliebter Stoff für Legendenbildung: die Angst vor billigen Arbeitsmigranten, die das industrialisierte Kerneuropa von Osten her – ist die EU einmal erweitert – ungehemmt überschwemmen werden. Die sich zu Tausenden aufmachen werden, um den Deutschen die wenigen Arbeitsplätze wegzunehmen. Und obwohl es so recht niemand zugeben mag, liegen hierin manch politikerseitige Vorbehalte in Bezug auf die Ost-Erweiterung der EU: Auch in diesem Jahr reisten wieder mehrere parlamentarische Arbeitsgruppen nach Polen, um eigens über das Migrationsproblem zu beraten, aufgeschreckt durch dubios zurechtfrisierte Zahlen und ausgestattet mit einer Überdosis Unkenntnis der realen Fakten.

Denn Tatsache ist, so der für deutsche und Schweizer Medien aus Polen und dem Baltikum berichtende Journalist Janusz Tycner, dass „mit zumehmender positiver Perspektive für das eigene Land die Bereitschaft auszuwandern sinkt: Seit der Aufnahme Spaniens in die EU tendiert die Zuwanderung von dort nach Deutschland gegen Null“, berichtete er auf einem vom polnischen Generalkonsulat und dem Hamburger Europa-Kolleg veranstalteten Symposium zur Ost-West-Migration.

Doch wie gestaltet sich die Arbeitsmarktsituation in Polen, das nach Japan wichtigster Handelspartner für Deutschland ist und das seit 1996 steigende Rück(!)wanderungszahlen ehemaliger Aussiedler verzeichnet, die hier nicht heimisch wurden? „Die größte Gefahr liegt im ökonomischen Auseinanderdriften Polens“, betont Tycner – und zwar in der Unausgewogenheit zwischen den Städten und den ländlichen Regionen, die fast dramatische Züge trägt: „Während Warschau nur drei Prozent Arbeitslose verzeichnet, sind es in Masuren fast 19 Prozent, und dieses Muster gilt für das ganze Land“.

Und doch sind es nicht die verarmten Bauern aus den ländlichen Gebieten, die – so westliche Horrorszenarien – „nomadengleich auf dem Sprung sind, Westeuropa zu überrollen“, wie Tycner es formuliert. Denn wichtig sei zu bedenken, dass in Polen jeder dritte Arbeitslose nur Hauptschulabschluss habe, etliche darüber hinaus eine nicht mehr zeitgemäße Ausbildung – „keine Konkurrenz für mit moderner Technologie vertraute Arbeitskräfte, in welchem Land auch immer.“

Außerdem müsse man – eine Selbstverständlichkeit eigentlich, aber zur Abwehr von Stereotypen anscheinend immer wieder erwähnenswert – bedenken, dass für eine Arbeitsmigration Sprachkenntnisse eine Minimalvoraussetzung seien, zudem „die Bereitschaft, die Heimat zu verlassen und in einer gleichgültigen bis feindseligen Umgebung zu leben.“ Die haben nicht viele – laut Tycner auch ein Grund dafür, dass die deutsche Computerspezialisten-Anwerbe-Aktion in Polen ins Leere lief. „In Polen gibt es fast keine Akademikerarbeitslosigkeit, weil die boomende Industrie alle qualifizierten Arbeitskräfte abschöpft. Und für ein paar hundert Dollar mehr ist niemand bereit, in einem Land zu arbeiten, in dem er auf Ablehnung stößt.“

Ein Problem, dem sich – neben den aus den preußischen Ostprovinzen ins Ruhrgebiet abgewanderten Polen deutscher Staatsbürgerschaft – 1888 auch die nach Wilhelmsburg emigrierten polnischen Arbeiter gegenübersahen: Die Hamburger Baufirma Hermann C. Vering hatte Erdarbeiter zur Aufhöhung der Bezirke Reiherstieg und Rotehaus angeworben, wie Professor Andrzej Sakson vom Westinstitut Poznan berichtete: „50 bis 80 Prozent Polen aus dem damaligen Posen, Bromberg und Thorn wohnten allein zwischen 1904 und 1925 in etlichen Straßen Reiherstiegs, insbesondere bei Stillhorn IV und in der Nähe des Freihafengebiets; 16 Prozent von ihnen waren von der Hamburger Wollkämmerei AG angeworbene IndustriearbeiterInnen, die geschlossene Gemeinschaften bildeten, um sich dem Assimilationsdruck von außen zu entziehen.“

Dem Inflationsdruck hat sich das aktuelle Polen dagegen im Lauf der letzten zehn Jahre mit klarem Erfolg entzogen: Betrug die Inflation 1990 noch 1000 Prozent, liegt sie jetzt bei sieben, und auch in die Ausbildung wird wieder investiert: „Die Zeiten“, davon ist Tycner überzeugt, „in denen man qualifizierte Leute für ein paar hundert Mark bekam, sind endgültig vorbei – auch eine Vorstellung, die in westlichen Köpfen spukt; wer Qualität will, muss die Leute gut bezahlen, wie im Westen auch.“

Wenig ausgeprägt scheint also – und Polen ist nur ein Beispiel – die Bereitschaft, das Herkunftsland dauerhaft zu verlassen – ein inte-ressanter Hinweis auch auf die von außen so anders beurteilte Gastfreundschaft und Attraktivität dieses unseres Landes, dessen Vertreter so beredt die rein wirtschaftlich definierte Vokabel „Industriestandort“ im Munde führen. Die Frage ist nur, ob die als Nummern definierten human resources solcherlei Denken auch zu schätzen wissen.

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