: Beim Sezieren des Wählerwillens
Draußen demonstrieren lautstark die Parteigänger. Drinnen zählen still die Wahlhelfer – es sei denn, eine Kamera ist in der Nähe
aus Palm Beach PETER TAUTFEST
Die Ränge steigen vom Podium aus steil an. Fehlt nur, dass auf dem Grunde des trichterförmigen Saals eine Leiche liegt, die vor den Augen der versammelten Gerichtsmediziner seziert wird. Gearbeitet wird schweigend, lautlos wie bei einem Ritual. Eine Lochkarte wird vorsichtig von einem großen Stapel genommen, an den Rändern gefasst und hochgehalten. Vier Köpfe beugen sich angestrengt nach vorne. Die Karte wird nach links und rechts gewendet, nochmals wie eine Monstranz erhoben, eine Zahl wird gemurmelt – meist eine drei (für Bush) oder eine fünf (für Gore). Man sieht sich an, nickt stumm, die Karte wandert auf einen von mehreren Stapeln. Jemand macht eine Eintragung in eine Strichliste.
Auf den Bankreihen dieses Amphitheaters sitzen Vierergruppen eng beieinander. Zwei Zähler sind Angestellte des Counties oder freiwillige Helfer, ihnen sitzen je ein Beobachter von der Demokratischen und der Republikanischen Partei zur Seite.
Die 26 Gruppen, die in Schichten von sieben Stunden zählen, arbeiten sehr unterschiedlich. Eine bewegt sich lautlos wie bei einer Pantomime, bei anderen wird getuschelt und auch mal gelacht. „Still!“, ruft Lisa LePore in den Saal, als handele es sich um ein Klassenzimmer, in dem eine Klausur geschrieben wird. „Keine Diskussion, keine bösen Blicke, keine Gespräche. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, kommt die Karte zum Stapel der strittigen Wahlzettel.“
Aufruf zu Gelassenheit
Lisa LePore, die Frau, die den verunglückten und inzwischen weltberühmten Wahlzettel gestaltet hat und Wahlleiterin im Range einer Richterin ist, ermahnt ihre Zählmannschaften wiederholt zur Gelassenheit. Strittige Wahlscheine wandern vor das „Canvassing Board“, den Wahlausschuss, der aus drei Richtern besteht. Sie sind es, die im Zentrum des Saals sitzen und umgeben von Anwälten die letzte Entscheidung treffen.
Seit Donnerstag wird in West Palm Beach, dem Sitz des Landkreises Palm Beach in Florida, wieder gezählt. Die Zählung, kurz nach der Wahl von demokratischen Wählern beantragt, war schon ausgesetzt worden, bis ein Richterspruch – einer der vielen, die in der letzten Woche fielen – den Weg dafür freimachte.
Ein flacher Betonkasten an einer Ausfallstraße ist zum Zentrum der Kontroverse über den Ausgang einer Wahl geworden, die zehn Tage nach Stimmabgabe noch immer keinen der Kandidaten zum Sieger gekürt hat. Das Gebäude, ursprünglich als Hurricane-sicheres Einsatzzentrum im Falle von Naturkatastrophen gebaut, ist von den Übertragungswagen und Journalistenteams umstellt.
So still wie es drinnen ist, so laut geht es vor dem Gebäude zu. Die Republikaner haben zu Demonstrationen aufgerufen. „Gore hat Amerika zur Geisel genommen“, steht auf dem Plakat von Jerry Lopez, der sich einen Kissenbezug mit ausgeschnittenen Löchern für Mund und Nase über den Kopf gezogen hat. Um seine Hände hat er Handschellen gelegt. „Gore verlangt den Wahlsieg als Lösegeld“, sagt Lopez.
„Mein Name ist Joel Stone“, sagt einer, „Oberstleutnant. Ich bin 74. War von 1950 bis 53 in Österreich stationiert. Ich hatte keine Probleme mit dem Wahlzettel, über den alle Welt sich aufregt. Ich habe in der Schule gelernt, meine Arbeit vor Abgabe durchzusehen. Die Demokraten wollen das Ergebnis mit ihrer Zählerei nur verfälschen. Gore ist wie Hitler, der schwört jeden Meineid, um Präsident zu werden“.
Viele pensionierte Soldaten, überhaupt viele Pensionäre haben sich in Florida und besonders in Palm Beach zur Ruhe gesetzt. Einige von ihnen kommen nachmittags zum Emergency Center. „Die Republikaner haben sie hergekarrt“, sagt ein einsamer demokratischer Demonstrant, der ein Plakat mit der Aufschrift trägt: „Auf das Volk vertrauen, weiterzählen.“
John Swick hat nach seiner Pensionierung Firmen in aller Welt beraten. „Ich habe einige Erfahrungen damit, komplizierte Dokumente zu lesen“, sagt er und zeigt ein Muster des Wahlzettels. „Ich wusste, dass ich am Wahltag nicht viel Zeit haben würde. Also habe ich mir das Muster entsprechend angestrichen.“
In der Wahlkabine sieht das dann so aus: Unter den Wahlzettel eine Lochkarte schieben, den Zettel an einer der vorgesehenen Stellen mit einem Stift durchstechen. Eine Maschine liest das Ergebnis ab. Eine Technik vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Seit 1964 wird sie bei Wahlen in den USA eingesetzt.
Verunglückt gewählt
Die sorgsame Vorbereitung nützte John Swick nichts. „Ich war verwirrt. Mehr als fünf Minuten durfte man nicht in der Kabine bleiben. Es herrschte großer Andrang. Ich habe also gewählt wie ich es mir vorgemerkt hatte. Als ich zu Hause war, wusste ich nicht, ob richtig.“
John Swick war nicht der einzige, der Schwierigkeiten mit dem Wahlzettel hatte und die Wähler von Palm Beach County nicht die einzigen in Florida. Fünfzehn der 65 Counties von Florida hatten eine höhere Zahl ungültiger Stimmen als Palm Beach. Und dort gab es immerhin einen Ausschuss von 6,3 Prozent.
An dem verunglückten Wahlzettel ändert die Nachzählung nichts. Angeordnet wurde sie, weil Wähler in drei Counties sie verlangt hatten. Stichproben hatten ergeben, dass die maschinelle Auszählung gegenüber der Auszählung von Hand signifikante Unterschiede ergab. Gesucht wird nach Lochkarten, die nicht lesbar waren, weil sich das vorgestanzte Kartonplättchen nicht richtig gelöst hat. „Das Einzige was wir tun können, ist den Leuten dieser Counties das Gefühl zu geben, dass wir größte Sorgfalt darauf legen, den Wählerwillen zu ergründen“, sagt eine Wahlhelferin in einer Zählpause.
„Ich habe gesehen, wie Karten gebogen, geknickt und in sich gedreht wurden“, ereifert sich Marc Klimek. Er ist als Beobachter aus dem Zählraum gekommen, steht nun vor der Presse. Er hält eine Lochkarte hoch und zeigt, was drinnen mit den Karten gemacht wird. „Man kann nachträglich die vorgestanzten Plättchen mit dem Fingernagel herausdrücken oder durch Biegen der Karte dazu bringen herauszuspringen. Das ist keine Nachzählung, das ist eine Nachbesserung. Ich habe schon Klage eingereicht.“
Jemand bittet ihn, das vorzumachen. Er soll eines der Plättchen lösen. Er fährt mit dem Daumennagel über eine Stelle. Die Karte erhält einen deutlichen Knick, das Plättchen aber löst sich so leicht nicht. „Sie müssen daran denken, dass diese Karten schon zum zweiten und in manchen Fällen zum dritten Mal durch die Zählmaschinen gelaufen sind. Bei jeder Handhabung wird die auf ihr festgehaltene Aussage unzuverlässiger“, beharrt Klimek.
Kamera an? Einspruch!
Im Zählraum beugen sich wieder vier Köpfe einer Karte zu. Zwei Journalisten beugen sich ebenfalls vor und eine Fernsehkamera ist auf die Karte gerichtet. Ein Arm schnellt nach oben. „Einspruch!“, tönt es durch den Raum. „Sie hat schon wieder zwei Karten gleichzeitig abgehoben.“ Richter Charles Burton von der Wahlkommission kommt nach oben. „Sie wissen, dass das nicht stimmt“, sagt die ältere schwarze Zählerin mit müder Stimme. Sie zählt seit sieben Stunden. Richter Burton versucht zu beschwichtigen. „Der Mann ist kaum zehn Minuten als Beobachter hier und macht nur Ärger“, schimpft die Zählerin. Richter Burton erklärt noch mal, wie Beanstandungen vorgebracht werden. „Es reicht, Einspruch zu erheben, dann wandert die Karte auf den Haufen mit fraglichen Wahlzetteln, wir klären vorne die Fälle.“
Bei einer Zigarettenpause erklärt Bezirksrichter Charles Burton, dass er nicht ahnte, auf was er sich einließ, als er Wahlleiter wurde. Dass er nicht ahnte, dass 400 Einsprüche auf seinem Tisch landen würden. „Im Einvernehmen mit republikanischen und demokratischen Anwälten haben wir alle bis auf sechs sofort zuordnen können.“ Burton ist zwar Demokrat, als Richter aber zur Neutralität verpflichtet. „Eure Anwälte sind toleranter als ihr, ermahnt er die republikanischen Beobachter im Raum.
Die Nachzählung ist zu einem PR-Krieg geworden. Die Republikaner wollten mit der Bekanntgabe des Ergebnisses am Samstag Tatsachen schaffen, bevor Ergebnisse aus den nachzählenden Counties bekannt wurden. Jetzt, da das Oberste Gericht Floridas der Innenministerin die Bekanntgabe vorläufig untersagt hat, wollen die Republikaner die Nachzählung zum Wahlbetrug stempeln – sie könnte ja zu Gunsten Gores ausgehen.
Wie lange soll das noch so gehen, wird Richter Burton gefragt. Können wir zum Erntedankfest in Ruhe unseren Truthahn essen? Burton schlägt die Augen zum Himmel und bleibt stumm. Thanksgiving ist am Donnerstag.
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