: Allein im Gebrüll der Kühe
Im Band „Irrfahrten – Ein ostjüdisches Leben“ erzählt Josef Burg von der verlorenen Kultur des alten Czernowitz
In den jüdischen Literatursalons und Kaffeehäusern von Bukarest, Wien, Prag und Czernowitz, dem „Klein Wien“ der Habsburger Zeit, trafen sich einst Rose Ausländer, der junge Paul Celan und neben vielen anderen auch Josef Burg. Heute ist Burg in Czernowitz, der kleinen Stadt am Rand der ukrainischen Karpaten, der letzte jüdische Schriftsteller – und Zeitzeuge einer großen europäischen Vergangenheit. In Gesprächen mit Michael Martens, die kürzlich als Buch erschienen sind, erzählt er von der versunkenen Welt ostjüdischer Kultur, von der Bukowina als „Land, über das die östlichen und westlichen Winde hinweggehen“, vom Literaturbetrieb, von Flucht und Heimkehr.
Der 1912 im vorkarpatischen Schtetl Wischnitz geborene Autor von mehreren Erzählbänden (zuletzt in dt. Übers. „Ein verspätetes Echo“, 15 Erzählungen, 1999) und Zeitschriftenartikeln lässt diesen durch Holocaust und sowjetische Siedlungspolitik ausgelöschten Teil europäischer Kulturtradition ganz nah erscheinen. Mit sparsamen Sätzen umreißt Burg im Gespräch die „Irrfahrten“ seines Lebens wie einen dunklen Traum.
Während der Kriegswirren unterrichtet er in einer Siedlung der Wolgarepublik. Doch 1941 werden die Deutschen deportiert. Der Jude bleibt als einziger zurück im Gebrüll der Kühe, die niemand mehr melkt. Damals, so Burg, erlebt er erstmals, was es heißt, allein zu sein. Den bald eintreffenden weißrussischen Juden, die dort angesiedelt werden sollen, teilt er Häuser zu. Sie machen ihn zu „einer Art Dorfgott“ – kopflos flüchtet er weiter nach Zentralasien. „Ein Mensch ist kein Koffer, den man von der einen Ecke des Zimmers in eine andere stellt“, sagt Burg.
In den auf Spaziergängen und in seiner Czernowitzer Wohnung 1998 mit Martens geführten Gesprächen spielt Literatur eine untergeordnete Rolle. Burgs Werk kommt so gut wie gar nicht vor. Es geht um das leider oft unscharf entwickelte Bild aus Erinnern und Vergessen, aus Verlust und Einsamkeit. Martens, lange Zeit in St. Petersburg und anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion tätiger Journalist, schreibt in seiner Einführung, Burg gehe heute durch die mehrfach umbenannten Straßen seiner Stadt, als ginge es ihn nichts mehr an.
Wieder einmal sind die Paradigmen des Lebens in Czernowitz andere. Im postsowjetischen Tscherniwtsi, wie die Stadt ukrainisch heißt, wird der 1959 Zurückgekehrte als großer Schriftsteller gefeiert. Seine Bücher, sagt Burg, die von einer längst vergangenen Welt zeugen, lese man deshalb trotzdem nicht. KATHARINA BORN
Josef Burg, Michael Martens:„Irrfahrten – Ein ostjüdisches Leben“. Hans Boldt Verlag, Weimar 2000,64 Seiten, 22,50 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen