: Glückwunsch, CDU!
Seit mehr als einem Monat diskutiert Deutschland über die „Leitkultur“. Zwischenstand: Punktsieg für die CDU. Das hat die Union nicht zuletzt ihren Gegnern zu verdanken
Ein bekanntes Machtspiel in der Politik heißt „Begriffebesetzen“. Wer den Begriff hat, hat die Deutungshoheit – und damit die Mehrheit der Wähler. So die Theorie, die allerdings immer annahm, dass diese Strategie bewusst gewählt würde. Es drückt daher die momentane Krise der CDU aus, dass sie jüngst einen Begriff besetzte, ohne es zu planen: die „Leitkultur“. Am Rande einer Pressekonferenz ließ Fraktionschef Friedrich Merz das ominöse Wörtchen fallen; es war genau am 10. Oktober. Seither geistert die „Leitkultur“ durch die deutsche Debatte. Zeit für eine erste Zwischenbilanz.
Auch wenn die Begriffswahl zufällig geschah und obwohl ein paar Unionspolitiker damit unglücklich sind – es ändert nichts am Fazit: Die „Leitkultur“ ist schon jetzt ein Erfolg für die CDU. Denn die Resonanz war und ist ungeheuer; sie ist – im Wortsinne – unheimlich.
Schon quantitativ: Wäre nicht der Rücktritt von Klimmt dazwischengekommen (und die Wahlgroteske in den USA), die „Leitkultur“ hätte über Wochen die Titelseiten beherrscht. Dabei ist die mengenmäßige Mediendominanz der „Leitkultur“ noch nicht einmal der größte Coup der CDU. Vor allem konnte sie den Diskussionsverlauf lenken – indem sie zunächst gar nicht lenkte. Paradoxerweise erwies sich als Vorteil, was anfangs lächerlich wirkte: dass Merz „Leitkultur“ nicht zu definieren wusste. Was nicht verwundern muss, denn der Begriff ist sinnlos.
Dies hat die linke und liberale Kritik erkannt, aber deswegen die Debatte noch lange nicht eingestellt. Stattdessen schien das Vakuum zu inspirieren: Braucht man eine Leitkultur? Und wenn ja, welche? Gehört Goethe auch dazu? Oder lieber Heine? Oder vor allem das Grundgesetz? Was ist mit dem Holocaust? Ist die deutsche Kultur nicht inzwischen sowieso aus Hollywood?
Indem man die leere Worthülse „Leitkultur“ näher bestimmte, hoffte man, der Union den Begriff zu entreißen. Man sah ihn wie einen uneroberten Kontinent, den es noch zu besetzen gilt. Dabei wurde jedoch die paradoxe Wirkung übersehen. Gerade weil man auf den Begriff „Leitkultur“ einstürmte, wurde seine Notwendigkeit bestätigt. Die „Leitkultur“, einst nur im Kopf des Friedrich Merz, ist für immer ins Deutsche eingedrungen. Die „Leitkultur“ ist durchgesetzt. Glückwunsch, CDU!
Dabei ist der Begriff selbst unverändert vage geblieben. Irgendwie hat er etwas mit dem Deutschtum zu tun und mit der Definition des Fremden. Aber das ist ja der Charme für die CDU: In aller Vagheit hat sich die Union als die Partei etablieren können, die die Deutschen vor den Zumutungen des Unbekannten schützt. Das ist unheimlich.
Oder doch nicht? Manche Beobachter trösten sich mit einer parteitaktischen Analyse: Die Union versöhne gerade Programm und Realität. Sie habe die Einwanderung als notwendig akzeptiert; jetzt müsse sie nur noch dafür sorgen, dass es die ewig gestrigen Stammtischbrüder nicht merken. Also vorwärts im Rückwärtsgang.
Ach wäre es doch so. Aber leider erklärt die Erklärung nichts. Ginge es tatsächlich nur um den „rechten Rand“, der „eingebunden“ werden muss: SPD und Grüne würden sich dieses Kampfspektakel zwischen der CDU und den Rechtsparteien gelassen ansehen. Stattdessen ist die rot-grüne Koalition hochnervös. Zu Recht vermutet sie, dass die Debatte um die „Leitkultur“ eben gerade nicht auf die Ränder zielt, sondern – mit Erfolg – auf die wahlentscheidende „neue Mitte“.
Diese „neue Mitte“ scheint also weit nach rechts zu tendieren. Das ist unheimlich. Oder doch nicht? Viele Liberale können in der Debatte um die Leitkultur nichts Bedrohliches erkennen. Im Gegenteil, sie sei dringend nötig in einer Einwanderungsgesellschaft (so etwa Josef Joffe in der letzten Zeit). Schließlich ist jeder Einwanderer ein Fremder – und fremd, wie er ist, muss er integriert werden. Sonst fliegt die Gesellschaft auseinander. Also braucht es Kriterien, die für alle gleich und gerecht vorgeben, wann ein Exfremder als guter Deutscher gelten kann. Ist die Argumentation erst so weit fortgeschritten, stellen sich die alten Kampffragen wieder: Reicht die Anerkennung des Grundgesetzes? Sind Deutschkenntnisse nötig? Wie steht’s mit dem islamischen Kopftuch? Eilig stürzt sich der Liberale zurück ins Diskursgetümmel, um endgültig gegen die Konservativen durchzusetzen, dass Verfassungstreue genügt.
So sympathisch die Position der Liberalen ist: Unwillentlich stärken sie die Union. Denn die subtile Botschaft ist wieder einmal paradox. Indem die Verfassungstreue der Ausländer und Einwanderer so nachhaltig zum Thema gemacht wird, schwingt die Unterstellung mit, dass die sieben Millionen Nichtdeutschen, die hier leben, allesamt ein Komplott gegen das Grundgesetz schmieden würden.
Aber genau dies ist nirgends zu erkennen. Die meisten Ausländer leben unauffällig vor sich hin wie auch die meisten Deutschen. Und von den nächsten Einwanderern ist ebenfalls nichts anderes zu erwarten.
Natürlich kommt es durchaus zu Schwierigkeiten: Es gibt türkische Kinder, die kaum Deutsch verstehen. Gleiches gilt für Aussiedler. Und ja, manche islamische Gruppen erkennen die Gleichberechtigung der Frau nicht an und würden gern die Scharia einführen.
Aber die Welt ist voller Probleme. Viele davon schwerwiegend. Das allein war jedoch noch nie ein Grund, sich aufzuregen – ob es um die Massenarmut von (Achtung: deutschen!) Kindern geht oder die Klimakatastrophe. Aber während die Erderwärmung gelassen hingenommen wird, kann jede neue Moschee erregen. Zudem ist die Debatte um die deutsche Leitkultur zwar heftig, aber merkwürdig unkonkret. So wird gern gefordert, dass alle Ausländer das Deutsche beherrschen sollten. Gute Idee. Aber wo bleibt der massive Protest dagegen, dass an den Deutschkursen seit Jahren gespart wird?
So bleibt der Eindruck zurück: Es wogen die Leidenschaften, aber es fehlt das Problem. Das ist irrational – eben unheimlich. Der Kampf um die Leitkultur wirkt wie ein Stellvertreterkrieg. Es geht nicht um einwandernde Ausländer – sondern um die Deutschen selbst. Sie scheinen zutiefst verunsichert, bis tief in die „neue Mitte“ hinein.
Unheimlich ist, dass die Globalisierung inzwischen die Mehrheit der Gesellschaft erschüttert. Jeder soll flexibel sein, sein eigener Unternehmer. Dies überfordert – und beutet viele aus. Letztlich geht es um einen neuen Verteilungskampf, für den es aber weder Strategien noch Akteure gibt. Also wird eine Ersatzdebatte geführt um die Frage, wer am Reichtum teilhaben darf. In jedem Land verläuft sie kulturbedingt anders; meist aber trifft es die Fremden, und in Deutschland wird eben über die leidige „Leitkultur“ diskutiert.
Die Globalisierung geht weiter. Und so dürfte uns die Fremdenfeindlichkeit der „Leitkultur“ noch lange begleiten. Obwohl sie vielleicht anders heißt. Asyldebatte zum Beispiel. Auch bei diesem neuen Kampf um Begriffe ist schon jetzt zu prognostizieren: Glückwunsch, CDU!
ULRIKE HERRMANN
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