piwik no script img

Schwiegermutters Reise

Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer

Die Verbindungen Russlands zum westeuropäischen Raum werden immer weniger. Es gibt nur noch einen russischen Zug, der am Bahnhof Lichtenberg ankommt. Der Zug wird in Brest zusammengestellt – aus Waggons verschiedener Farbe. Meine Schwiegermutter kam in einem blauen Waggon an, auf dem „Saratow“ stand, obwohl sie eigentlich im Nordkaukasus lebt, tausende Kilometer von Saratow entfernt. Im Nordkaukasus gibt es aber kein deutsches Konsulat, wie im Übrigen auch nicht im Südkaukasus. Es gibt in Russland meines Wissens nur vier deutsche Außenstellen, die Visa erteilen: eine in Moskau, eine in St. Petersburg, dann noch eine sibirische und eine vierte in Saratow – für den Rest des Landes. Meine Schwiegermutter musste also zuerst drei Tage durch das ganze russische Bermuda-Dreieck fahren, um in Saratow ein Besuchsvisum zu beantragen.

Alle Abteile waren mit besoffenen Soldaten und Offizieren überfüllt, die aus Tschetschenien zurückkamen und nach Hause fuhren. Sie konnten es noch immer nicht fassen, dass sie trotz allem überlebt hatten. Vor lauter Freude schüttelten sie literweise Wodka in sich hinein und randalierten die ganze Zeit. Sie tanzten halbnackt herum und kotzten den Korridor voll. Die Zivilisten im Zug kuckten weg. Die Soldaten erinnerten sie an einen Krieg, den keiner wahrhaben wollte. Nur meine Schwiegermutter versuchte die ganze Zeit, sie zur Ordnung anzuhalten: „Ihr seid keine Krieger, Pissnelken seid ihr!“, appellierte sie an ihren Verstand, doch es war umsonst.

Die Soldaten waren zu betrunken, um sich noch selbst kontrollieren zu können. Der eine fiel sogar mitten in der Nacht vom oberen Bettgestell runter, ohne wach zu werden. Auf dem Boden pinkelte er in die Pantoffeln meiner Schwiegermutter und brach damit das letzte Tabu des zivilen Lebens. Am nächsten Morgen, als er aufwachte, suchte der Krieger vergeblich nach seiner Waffe, die er im Suff verloren hatte – eine Vollautomatik, das einzig Wertvolle, was er besaß. Er hatte große Pläne mit ihr. Er wollte sie nämlich in Saratow auf dem Flohmarkt verscheuern und mit dem Geld tolle Geschenke für seine Eltern kaufen. Nun war sie aber weg, zur großen Freude der anderen Reisenden. Sie hänselten ihn, und der junge Mann weinte beinahe, denn ohne Waffe war er kein Soldat und verdiente keine Achtung mehr. Meine Schwiegermutter hatte jedoch ein großes Herz: Sie zog ihre trockenen Ersatzpantoffeln an und ging durch den Zug, um seine Vollautomatik zu suchen. Sie war schnell gefunden: Einige Kinder im Waggon nebenan spielten damit Krieg. Sie hatten die Vollautomatik auf dem Klo entdeckt und richteten sie nun auf die Schaffnerin, damit die ihre Uniform ausziehe. Die Schwiegermutter entwaffnete die Kinder kurzerhand und brachte die Pistole dem Soldaten zurück. „Du hast mir mein Leben gerettet, Mutti!“, schrie er auf, „dafür werde ich deine Tochter heiraten.“

„Um Gottes Willen, wer braucht schon so einen Bräutigam“, erwiderte die Schwiegermutter. „Wie ein beknackter Affe siehst du aus. Außerdem ist meine Tochter schon verheiratet – mit einem Schriftsteller in Berlin“, sagte sie stolz. Da durchschaute der Soldat sofort sein ganzes Elend – und wurde nachdenklich. Bis nach Saratow wechselte er kein Wort mehr mit der Schwiegermutter.

Dort im Konsulat hatte ein Freund von uns schon alles vorbereitet. Sogar eine Wartenummer für die Schwiegermutter hatte er schon gezogen, sie musste also nicht mehr zwei Wochen wie die anderen warten, bis sie dran war. Für 200 Mark bekam sie eine Auslandskrankenversicherung, die in keinem Land der Welt anerkannt wird, eine Liste mit Telefonnummern der russischen Botschaft in Deutschland und all das sonstige Zeug, was dort die schlauen russischen Mitarbeiter jedem andrehen. Nicht zu vergessen das Visum. Nach zwei Tagen saß sie wieder im Zug, diesmal in Richtung Deutschland über Brest.

Wenn die Polen nach Drogen suchen und dafür spezielle polnische Schäferhunde einsetzen, die die Drogen riechen können, dann suchen die weißrussischen Zöllner nur nach Geld. Dabei haben sie im Laufe der Zeit außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelt: Sie finden das Geld überall, selbst dort, wo keines ist. Nur naive Menschen denken, dass Geld nicht stinkt. Die weißrussischen Schäferhunde können das Geld selbst aus großen Entfernungen riechen. Es müssen nicht mal unbedingt große Scheine sein, selbst eine kleine Münze bringt diese Experten zum Bellen. Auf die Summe kommt es ihnen nicht an: Selbst wenn sie nur einen Pfennig riechen, freuen sich die Hunde darüber wie verrückt.

Auf diese Weise sind die weißrussischen Zöllner natürlich in einer vorteilhafteren Situation als ihre polnischen Kollegen. Sie erwirtschaften pures Geld, während die Polen sich ständig überlegen müssen, wie sie den Stoff wieder loskriegen.

Es finden sich aber immer wieder mutige Reisende, die keine Angst vor den weißrussischen Schäferhunden haben und ihr Geld gar nicht erst verstecken. Dazu gehörte auch meine Schwiegermutter. Sie hatte 100 Mark bei sich und sagte den Zöllnern gleich: „Hier ist mein Geld, alles ist offiziell, und ich habe nicht vor, euch was zu geben.“ Da hatten sie sofort keine Lust mehr weiterzusuchen und zogen Leine. Sie können nämlich nur das Geld behalten, das versteckt wurde, so sind die Spielregeln. „Wieso gehen sie schon, werden sie uns denn heute gar nicht ausziehen?“, erstaunten sich die anderen Frauen im Abteil. Sie fuhren diese Strecke regelmäßig, und bisher waren sie noch jedesmal von den Zöllnern ausgezogen worden, sodass es sie schon fast danach verlangte. Manche fuhren die Strecke immer wieder, nur um von den Zöllnern ausgezogen zu werden, denn wo sonst fänden sie noch so viel Neugier und Interesse an ihrem Körper? Doch diesmal hatte meine Schwiegermutter ihnen die Show vermasselt.

Auf dem Weg zum Bahnhof Lichtenberg blieb ich im Stau stecken und verpasste beinahe den bunten Russenzug. Die Schwiegermutter stand schon auf dem Bahnsteig – mit zwei riesigen schwarzen Taschen: 20 Kilo selbst gemachte Aprikosenkonfitüre in Drei-Liter-Gläsern waren darin. „Das musste doch nicht sein“, sagte ich wie schon beim letzten und beim vorletzten Mal zur Begrüßung. „Wir hatten so eine reiche Ernte dieses Jahr“, erwiderte sie, „und ich wusste einfach nicht, wohin mit dem ganzen Zeug. Da dachte ich, was soll’s, ich nehme es einfach nach Deutschland mit.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen