: Der lange, tödliche Arm des Staates
Der Tod eines Internet-Journalisten, der über Korruption schrieb, spiegelt die politische Situation in der Ukraine
Ein schrecklicher Verdacht ist Gewissheit geworden: Der Journalist und Mitarbeiter der ukrainischen Internetzeitung Ukrainska Pravda, Georgij Gongadse, ist tot.
Am 16. September wartete Ehefrau Myroslawa abends auf die Rückkehr ihres Mannes. Gongadse hatte sich, wie jeden Tag, in der Kiewer Redaktion seiner Zeitung verabschiedet und auf den Weg nach Hause gemacht. Doch dort tauchte er nie auf. Stattdessen wurde in der Kleinstadt Tarastschy bei Kiew in der vergangenen Woche eine stark verweste Leiche gefunden – ohne Kopf. Lediglich anhand eines Armbands, Rings und Talismans identifizierten Journalistenkollegen den Toten. Kurz darauf ereignete sich der nächste mysteriöse Vorfall: Als die Leiche abgeholt werden sollte, um zu weiteren Untersuchungen nach Kiew gebracht zu werden, war sie verschwunden.
Politischer Hintergrund
Tod und Verschwinden des 31-Jährigen haben einen politischen Hintergrund. Denn Gongadse, der georgischer Abstammung war, schrieb vor allem über Korruptionsskandale innerhalb der so genannten Elite von Wirtschaft und Politik.
Dass die Ukrainska Pravda, die erst im Frühjahr gegründet wurde, nur im Internet erscheint, passt ins Bild: Der lange Arm des Staates reicht noch nicht bis ins Netz. Klassische Printmedien, die nicht linientreu Staatspräsident Leonid Kutschma ergeben sind, werden dagegen mit Gerichtsverfahren, Geldstrafen und Papierentzug behindert und zum Schweigen gebracht.
Die Ukrainska Pravda wurde so schnell Organ der Journalisten, deren Artikel andere Medien aus Angst vor Sanktionen nicht mehr bringen. „Die Zeitung ist ein Versuch, den Nebel zu lüften, der sich über unsere Gesellschaft gelegt hat. Das ist eine Art, unseren Beruf auszuüben, das heißt, zu schreiben, was man sieht und was man fühlt, wenngleich das in der ‚demokratischen‘ Ukraine von heute praktisch unmöglich ist“, schrieb Gongadse in der ersten Ausgabe der Ukrainska Pravda.
Dieses Berufsethos dürfte ihm jetzt zum Verhängnis geworden sein. Der ukrainische Journalist Oleg Jelzow, der in Kiew bei einem russischen Internetdienst publiziert und vor allem im Geheimdienstmilieu recherchiert, ist von der Todesnachricht nicht sonderlich überrascht. Schließlich sei ohnehin merkwürdig gewesen, dass eine intensive, grenzüberschreitende Suche, in die sogar Interpol eingeschaltet gewesen sei, keinerlei Ergebnis erbracht habe. „Gongadse ist zwischen die verschiedenen Oligarchen und ihre Strukturen geraten“, sagt Jelzow.
Für Julia Sabri, Mitarbeiterin des unabhängigen Kiewer Instituts für Massenkommunikation und Chefin der ukrainischen Sektion von „Reporter ohne Grenzen“, ist der Fall Gongadse nur ein weiterer Beleg für Versuche des Regimes, mit allen Mitteln gegen unabhängige Medien und deren Mitarbeiter vorzugehen. „Was Gongadse angeht, arbeitete die Propagandamaschine wie in alten Zeiten. Schon sein Verschwinden wurde als rein persönliches Problem dargestellt, das nichts mit seiner Tätigkeit als Journalist zu tun hatte“, sagt Sabri.
Geheime Informationen
Bezeichnend für die Situation sind auch die Arbeitsbedingungen des parlamentarischen Ausschusses, der eigens eingesetzt wurde, um den Fall Gongadse zu untersuchen. „Die Informationen, die wir benötigen, werden uns vorenthalten“, sagte der Ausschussvorsitzende Oleg Lavrynovitsch. „Gleichzeitig veröffentlichen die offiziellen Ermittler Informationen, die der Geheimhaltung unterliegen.“
Wie Präsident Kutschma und seine Mannschaft mit aufmüpfigen Medien umspringen, bekamen vor kurzem auch die Silskie Visti (Dorfnachrichten), mit einer Auflage von 665.000 Exemplaren eine der größten Tageszeitungen in der Ukraine, zu spüren. Das Blatt, im Präsidentenwahlkampf 1999 auf der Seite von Kutschmas Widersacher Alexander Moros, wurde Ende September wegen angeblich nicht ordnungsgemäß bezahlter Steuern geschlossen und sollte 300.000 US-Dollar nachzahlen. Erst als linke Abgeordnete aus Protest gegen die Schließung der Zeitung eine Parlamentssitzung für kurze Zeit verließen und die Redakteure mit Hungerstreik drohten, knickte das Regime ein: Seit kurzem erscheint Silskie Visti wieder. Fragt sich nur, wie lange. BARBARA OERTEL
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