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Reichstagsbrand 1933, mehr als ein Kriminalfall

Der erbittert geführte Streit um die Frage, wer oder welche Mächte 1933 das deutsche Parlament anzündeten, dauert schon mehr als fünf Jahrzehnte. Eine vorläufige Bilanz

In seiner der Nazizeit gewidmeten Studie „Verführung und Gewalt“ bemerkt der Historiker Hans-Ulrich Thamer zum Reichstagsbrand, dass es nicht von entscheidender Bedeutung sei, wer ihn gelegt habe. Wichtiger sei die „entschlossene und überfallartige Nutzung der Ereignisse“ durch die Nazis gewesen. Der Reichstagsbrand habe ihnen „den entscheidenden Schritt zur unbeschränkten Diktatur ermöglicht“.

Diese Auffassung ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die kommunistische und sozialdemokratische Linke, die dem Brand auf dem Fuß folgten, in beiden Fällen die gleichen gewesen wären. Falsch, weil die These von der bloßen Ausnutzung des Brandes durch die Nazis eine fatale Folge haben könnte. Sie ist geeignet, ein Geschichtsbild zu befördern, das die gesamte NS-Herrschaft samt ihren verbrecherischen Folgen mehr als eine Verkettung von unvorhergesehenen Ereignissen und Zufällen sieht denn als Ergebnis eines terroristischen, totalitären Projekts.

Die Geschichte der historischen Untersuchung des Reichstagsbrandes seit Kriegsende ist ein so spannender Kriminalfall wie der Brand selber. Bei der Antwort auf die Frage „Einzeltäter oder zumindest Mittäterschaft der Nazis“ lassen sich vier Phasen unterscheiden.

In der Nachkriegszeit bis zum Ende der Fünfzigerjahre galt die Täterschaft der Nazis als gesichert. Dafür sprachen Indizien, die einen Einzeltäter ausschlossen, als auch vor allem die Antwort auf die Frage nach dem cui bono: Wem hat’s genutzt? Zum Ende jenes Jahrzehnts trat dann in der zweiten Phase der Ministerialrat im niedersächsischen Amt für Verfassungsschutz, Fritz Tobias, auf den Plan und mühte sich, durch eine Neubewertung der damals zugänglichen Quellen die These von der Einzeltäterschaft zu belegen.

Wissenschaftliche Weihen erhielten diese Bemühungen durch das Gutachten Hans Mommsens von 1964, der im Wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen gelangte wie Tobias. In der dritten Phase trat ein interdisziplinäres Forscherteam unter Leitung des Zeitgeschichtlers Werner Hofer auf den Plan, das 1972 und 1978 zwei Bände mit Zeugenaussagen, Gutachten und anderen zeitgenössischen Quellen vorlegte. Durch diese Arbeiten sollte die Einzeltäterthese endgültig widerlegt und die Täterschaft der Nazis nachgewiesen werden. In der Folgezeit wurden in der Publizistik massive Breitseiten gegen diese Dokumentation abgefeuert. Ihr wurde vorgeworfen, teils Fälschungen aufgesessen zu sein, teils selbst welche produziert zu haben.

Die gesamte, auch vor den Schranken der Gerichte ausgetragene bittere Kontroverse fand freilich auf wissenschaftlich ungesichertem Boden statt. Es fehlten zentrale Dokumente, vor allem die polizeilichen Verhörprotokolle von Zeugen und Sachverständigengutachten, die im Prozess vor dem Reichsgericht selbst nicht auftauchten. Diese Materialien lagen zuerst in Moskau, seit 1982 im Zentralen Parteiarchiv der SED und waren der westdeutschen Forschung unzugänglich.

Das änderte sich erst mit der Wende 1989. Unter Auswertung dieser Quellen kamen die Historiker Alexander Bahar und Wilfried Kugel 1995 zu dem Schluss, dass bei den Ermittlungen von 1933 und beim nachfolgenden Prozess vor dem Reichsgericht alle Aussagen systematisch getilgt wurden, die auf eine Täterschaft der Nazis verwiesen hatten. Die Einzeltäterschaft Marinus van der Lubbes wurde von den Autoren unter Hinweis auf die Ungereimtheiten des behaupteten Tatvorgangs, aber auch auf die systematische Verwischung aller Spuren, die auf eine Täterschaft der Nazis hinwiesen, verworfen. Nachträglich erwies es sich auch, dass die schon in den Achtzigerjahren zurückgewiesenen Fälschungsvorwürfe gegenüber der Hofer-Kommission im Wesentlichen zu Unrecht erhoben worden waren. Die von Bahar und Kugel, aber auch von Jürgen Schmädcke und Hersch Fischler präsentierten Fakten und Schlussfolgerungen sind bislang von den Verteidigern der Einzeltäterthese nicht widerlegt worden.

Die Sicht, die von mehreren Tätern ausgeht, Marinus van der Lubbe als Opfer einer Naziprovokation ansieht und die Täterschaft der Nazis durch Indizienbeweis für äußerst nahe liegend hält, findet sich im Internet unter www. zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand. Es war auch diese Sicht, die Bahar und Kugel im taz.mag vom 21./22. Februar 1998 dargelegt haben. Dort kann auch eine kritische Würdigung des Gutachtens von Hans Mommsen aus dem Jahr 1964 nachgelesen werden.

CHRISTIAN SEMLER

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