: „Das Verhalten erklären“
Interview CHRISTIAN SEMLER
taz: Herr Reemtsma, Sie haben seinerzeit erklärt, auf die Ergebnisse der historischen Kommission zur Wehrmachtsausstellung warten zu wollen, ehe über die Frage „Reparatur oder Neukonzeption“ entschieden wird. Jetzt haben Sie zeitgleich mit dem Kommissionsgutachten eine neue Konzeption vorgelegt. War die Arbeit der Kommission also nur Staffage, waren die Würfel längst gefallen?
Jan Philipp Reemtsma: Die Frage, in welcher Weise die Ausstellung bearbeitet werden würde, konnte sich nur zum Teil auf den Bericht der Kommission beziehen. Auftrag an die Kommission waren die Überprüfung der Materialien und bestimmte Fragen ihrer Präsentation. Die Mitglieder der Kommission haben großen Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Frage „Überarbeitung oder Neukonzeption“ von ihnen nicht zu beantworten sei. Zweitens: Bei der Beantwortung dieser Frage ist wesentlich mehr zu berücksichtigen als das, worüber sich die Kommission Gedanken gemacht hat. Als ich das Ausstellungsmoratorium bekannt gemacht habe, betonte ich gleichzeitig, dass die zeitweilige Schließung der Ausstellung auch die Chance beinhaltet, sich das ganze Unternehmen noch mal grundsätzlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Zwei Beispiele für das, was nicht die Kommission, wohl aber wir neu bedenken mussten: Soll man auf das Stilmittel unkommentierter Bildsequenzen verzichten oder nicht? Und die von vielen Besuchern der Ausstellung gestellte Frage: Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von Wehrmachtsverbrechen sprecht? Geht es um das Verständnis von 1995, das der Nürnberger Prozesse oder das von 1941?
Sie haben sich in Ihrem Statement zur Neukonzeption gleichwohl eng an das Gutachten angelehnt.
Nur in dessen erstem Teil. Im zweiten Teil legen wir die Überlegungen dar, die während der Arbeit der Kommission im Hause angestellt wurden. Unser neues Konzept ist, wenn Sie so wollen, deduktiver. Wenn man sich mit der Frage von Krieg, Völkerrecht und Kriegsrecht beschäftigen will, dann muss man zu einer neuen Einteilung der Ausstellung kommen, die sich an verschiedenen Verbrechenstypen orientiert. Dann aber werden neue Arbeitsfelder deutlich, die bearbeitet werden konnten, bevor der Abschlussbericht der Kommission vorlag. Also die Hungerpolitik, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen – Themen, die weit über die alte Ausstellung hinausreichen.
Sie sprachen von der Notwendigkeit, den in der Ausstellung gezeigten Wehrmachtsverbrechen eine stärkere Tiefenstruktur zu geben. Heißt das zum Beispiel, dass Sie anlässlich der Morde in Zloczow, Lemberg und dem östlichen Galizien auch die vorhergegangenen Mordaktionen des sowjetischen NKWD und die ihnen folgenden Pogrome der Bevölkerung an den Juden mit einbeziehen werden? Muss man nicht zeitlich wie örtlich diese gesamte Zone des Schreckens in Betracht ziehen?
Wo es zum Tatgeschehen gehört, dass die Morde des NKWD zur Legitimierung der deutschen Verbrechen gedient haben, sollte man das darstellen, ohne vergessen zu machen, dass der Vernichtungskrieg nicht Ergebnis solcher vorhergehenden Ereignisse gewesen ist. Es sind nicht alle deutschen Soldaten, die Verbrechen begangen haben, durch das Nadelöhr dieser Ereignisse, nämlich das Erlebnis vorhergehender sowjetischer Mordtaten, gegangen. Es handelt sich um einen Vernichtungskrieg, in dem der Massenmord zur Kriegsplanung gehörte. Gleichwohl sollte die neue Ausstellung die Interdependenz von Intentionalität und situativer Dynamik darstellen.
Ich hatte den Eindruck, der Kommissionsbericht hatte eine negative Haltung zu den emotionalen Wirkungen, die die Ausstellung hervorrief und in deren Umfeld sie spielte, also der Linie vom Holocaust-Fernsehspiel der 70er- bis zu „Schindlers Liste“ der 90er-Jahre.
Ich habe den Kommissionsbericht nicht so gelesen. Das Argument war, dass die öffentliche Diskussion immer durch relativ popularisierende Medien entfacht worden ist und nicht durch die Studien der Fachhistoriker.
Sie rechnen die Wehrmachtsausstellung dem Genre der popularisierenden Medien zu?
Jede Ausstellung gehört diesem Gentre an.
Wie sehen Sie heute Ihre eigene Rolle beim Zustandekommen der Fehler? Was hätte man nach dem damaligen Wissens- und Erkenntnisstand anders machen müssen?
Die Frage beantwortet sich aus meinen Schlussfolgerungen. Künftig muss sich das neue Team wechselseitig kontrollieren. Das Gleiche gilt für das Verhältnis Institutsmitarbeiter/Ausstellungsteam. Wichtig auch das Moment der rechtzeitigen externen Kontrolle. Wir werden die einzelnen, neu konzipierten Ausstellungsräume jeweils von Fachleuten begutachten lassen.
Sie sprachen davon, dass die künftige Ausstellungskonzeption das Terrain der Geschichtspolitik verlassen und sich mehr einer historischen Anthropologie zuwenden sollte. Geschichtspolitik heißt doch Indienstname der Geschichte zur Durchsetzung aktueller politischer Ziele. Kann die alte Wehrmachtsausstellung unter diesen Begriff rubriziert werden?
Die Ausstellung war nicht unmittelbar auf die Durchsetzung oder Verhinderung aktueller politischer Ziele gerichtet. Sie wurde aber zum Gegenstand der Geschichtspolitik. Denken Sie an die Debatten über die deutsche Wehrmacht, die von der Ausstellung ausgelöst wurden. Eine Zeitreise zurück in die 50er-Jahre. Unterstellungen und Gegenunterstellungen schaukelten sich gegenseitig hoch. Das ist es, was ich mit Geschichtspolitik meine. Wenn gesagt wurde, die Ausstellung sei dazu da, die Bundeswehr zu denunzieren, dann ist das beispielsweise eine geschichtspolitische Unterstellung.
Sie wünschen eine Hinwendung der Debatten über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht zur „historischen Anthropologie“. Die anthropologische Sicht zielt auf die Konstanz menschlicher Verhaltensweisen. Liegt in dieser Wende nicht die Gefahr, dass wir, selbst wenn wir uns auf konkrete, schreckliche Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts beziehen, künftig schlicht vom „Jahrhundert der Barbarei“ sprechen werden? Wird alles zusammengeheftet, eingeebnet?
Lassen Sie mich die nützliche Unterscheidung des englischen Philosophen David Hume von Geschichtsschreibung einerseits, Philosophie andererseits ins Feld führen. Geschichtsschreibung konstatiert bei ihm Tatsachen, die Philosophie nimmt die historischen Fakten als Beispielsfeld, um menschliches Verhalten zu erklären. Also gehört sowohl das dazu, was über lange Zeiträume konstant bleibt, Mechanismen, die man immer wieder erkennen kann, als auch das, was sich ändert. Mich interessieren besonders Einstellungsänderungen zur Gewalt in der Moderne. Einmal in der frühen Neuzeit, nach dem 30-jährigen Krieg, mit der überragenden Rolle, die Thomas Hobbes und alle seine Nachfolger der Gewaltbegünstgung zugeschrieben haben. Dann aber das 20. Jahrhundert. Wie kommt es, dass ein gewaltarmes Zeitalter – in dem Gewalt noch ausgeübt wird, sie steht aber unter Rechtfertigungszwang – sich in diese extreme Destruktivität hineinentwickelte? Dass dieses ursprüngliche Selbstbild zerbrach? Das sind meiner Ansicht nach keine typischen Fragen der Geschichtswissenschaft.
Was mich beunruhigt, ist eine Art der Geschichtsbetrachtung, wie sie etwa im „Traktat über die Gewalt“ des Historikers Wolfgang Sofsky zum Ausdruck kommt. Gewaltphänomene werden in einer Art und Weise generalisiert, die alle Katzen in der Nacht des Schreckens gleich grau aussehen lässt.
Sofsky entfernt sich zu weit von den historischen Einzelfällen zugunsten eines in sich geschlossenen Systems. Sofsky interessiert sich nicht für die historischen Phasen, in denen es relativ gewaltarm zuging. Ich teile diese Auffassung nicht. Warum finden neuzeitliche Menschen, die eben noch zu einer öffentlichen Hinrichtung strömten, dieses Schauspiel auf einmal als ekelhaft? Der Pöbel von Paris verjagt den Henker, dem es kurze Zeit vorher noch gebannt zuschaute.
Zurück zu dem, was über lange Zeit konstant bleibt. Eine Gruppe wird verfolgt, die verfolgende Gruppe unterstellt Vergeltungsgelüste der Verfolgten. Jetzt werden die Verfolgten stigmatisiert, man heftet ihnen erbliche Eigenschaften an. Das geschieht von den Kreuzzügen über die Zwangsbekehrungen der Juden nach der spanischen Reconquista bis zum Rassismus des 19. Jahrhunderts. Warum greifen solche Mechanismen, und: Wann greifen sie nicht mehr? Ich will noch einmal die methodische Frage an Hand eines Beispiels erläutern. Wenn ich die Kamera weit zurückfahre, sehr ich große Bewegungen, aber nicht mehr die Aktionen einzelner Menschen. Ich sehe Bewegungsströme. Wenn Sie die Kamera ganz dicht heranfahren, sehen Sie nur Gesichter, keine Strukturen.
Wie wär’s mit der Halbtotale, wie bei Fußballübertragungen?
Auch die gibt nur einen Ausschnitt wieder. Keine Perspektive kann das eine und das andere gleichzeitig. Man muss beides tun.
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