DER TOD VON JOSEPH A.: HAFTBEFEHLE WIEDER AUFGEHOBEN: Ein unheimlicher Fall
Das menschliche Gedächtnis ist eine Sammlung aus Geschichten, die rückblickend umgeschrieben werden. Das geschieht besonders heftig, wenn es keinen erprobten gesellschaftlichen Umgang mit dem Erlebten gibt. Wenn es um jugendliche Gewalt geht und um Rechtsradikalismus beispielsweise. Der Tod des kleinen Joseph A. wird nun schon mehrmals neu erzählt – und gibt damit einen Blick frei auf das, was möglich sein könnte an Gewalt, an Verdrängung und an Vorverurteilung. Dass kollektive Verdrängung und kollektive Vorverurteilung nah beieinander liegen könnten, ist das eigentlich Unheimliche am Fall des toten Jungen aus Sebnitz.
Eine Boulevardzeitung hatte den Jungen auf die Titelseiten gehievt: Da waren der gestorbene Sechsjährige, die trauernde Mutter, die Horde von Neonazis, die ihn angeblich ertränkt hatten. Da war eine Nachbarschaft, die die deutsch-irakische Familie angeblich mobbte, da war die Kleinstadt Sebnitz in Sachsen, Treffpunkt von rechtsradikalen Gruppen. Eine scheinbar runde Geschichte also – doch so ganz rund war diese Geschichte bald nicht mehr: Als organisierte „Neonazis“ stellten sich die drei Verhafteten nicht heraus, was aber nicht ausschließt, dass sie ausländerfeindlich gesinnt waren. Die Mutter hatte zudem immerhin 15 Zeugenaussagen gesammelt, meist von jungen Leuten aus der Stadt. Ein kollektives Schweigen aller Bewohner im Ort hat es somit nicht gegeben.
Alles andere bleibt unklar. Die Staatsanwaltschaft hat die drei Verhafteten jetzt freilassen müssen, weil die Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen in Frage gestellt ist. Eine neue alte Geschichte droht die bisherige zu überschreiben: War es doch nur ein Badeunfall, sind die Vorwürfe konstruiert, hat eine verzweifelte Mutter Zeugen allzu suggestiv befragt, weil sie über den Tod ihres einzigen Sohnes nicht hinwegkam? Oder kommt jetzt – das wäre die letzte, die perfideste Geschichte – das Ende der Aufdeckung, weil es keine Beweise für irgendeine der Versionen gibt? Wie kam der Junge ins Wasser? Wie man den Fall Joseph sieht, sagt inzwischen viel aus über den Standpunkt der Betrachter – und wenig über den Fall selbst. Genau das ist das Tragische daran.
BARBARA DRIBBUSCH
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