: Davon, (k)ein Anderer zu sein
■ Sabine Voss liest aus ihrem Roman „Mushroom im Garten“
Wo ist meine Frau? Mit diesem Satz beginnt Sabine Voss' Roman Mushroom im Garten. Aber Bruno Kalthoff, der Held des Buches, wird seine Frau bis zum Ende (des Buches) nicht wiedersehen, besser: sie nicht mehr erkennen. Er hat sie betrogen, sie hat ihn verlassen, als sie sich wiedersehen, kann er sich nicht mehr an sie erinnern, er nennt sie Roberta, obwohl sie Irmgard heißt. Aus Brunos Innensicht wird die Welt um ihn herum verrückt, für die Außenwelt wirkt er verrückt, krank, dement.
Sabine Voss erzählt Brunos Schicksal aus seinem Blickwinkel, sowie dem seiner Frau und seiner jüngeren Schwester. Sie versammelt die drei Sichten zu einem Strang aus Berichten, Rückblenden, Erinnerungen, Gesprächsnotizen, Anekdoten und Briefen. Langsam gewinnt der Leser so ein vielschichtiges Bild von Bruno als Kind, als Junge und als Ehemann. Nebenbei erfahren wir, wie seine Mutter langsam (wirklich) dement wird, dass sie ihren Sohn nicht mehr erkennt und wie sie vor dem Schrank sitzt und Töpfe zählt; seine Frau entfremdet sich von ihm, seine Schwester verliert sich in ihrem Leben. Immer wieder scheinen die Geschichten der drei Frauen – Ehefrau, Mutter, Schwester – durch.
Im Krankenhaus verhält der 43-jährige Bruno sich dagegen wie ein renitenter Greis, der mit dem Gehstock auf die Krankenschwester losgeht, die Patienten verschreckt und eine Verschwörung gegen sich vermutet. Gleich was passiert, aus seiner Sicht sieht alles anders aus. (Einem Bahnangestellten, der die Fahrkarten kontrollieren will, antwortet er: „Beweisen Sie mir erst, dass ich überhaupt fahre. Dann zahle ich auch den entsprechenden Preis dafür.“) Der Roman ist immer wieder komisch und von plötzlichen Wendungen durchzogen. Sabine Voss ist mit ihrem Romandebüt die außergewöhnliche Aufzeichnung eines wundersamen Schicksals gelungen, rasant erzählt. Wenn sie so liest, wie sie schreibt, steht den Zuhörern heute Abend ein außerordentliches Vergnügen bevor. Christian T. Schön
Sabine Voss: „Mushroom im Garten“, Kowalke & Co., Berlin 2000, 196 Seiten, 39 Mark
Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus
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