piwik no script img

Peinigende Scham

Erröten, Schweißausbrüche, Unsicherheit: Unter Schüchternheit leiden mehr Menschen, als die moderne Spaßgesellschaft wahrhaben will – ein genetischer Makel oder eine psychologische Chance? Eine Erörterung

von BJÖRN KRÖGER

Sind Sie schüchtern? Verursacht Ihnen Ihr Schamgefühl oder Ihre Schüchternheit Herzrasen oder Schweißausbrüche? Schämen Sie sich, wenn Sie mit jemandem sprechen, von dem Sie sich angezogen fühlen oder der für Sie eine Autorität darstellt? Ziehen Sie sich aufgrund ihrer Schüchternheit oftmals in die eigenen vier Wände zurück? Wenn Sie keine der vier Fragen mit Ja beantworten mussten, dann seien Sie beglückwünscht, denn für Sie ist Schüchternheit kein Problem. Wenn Sie alle Fragen mit Ja beantwortet haben, dann verhindert Ihre Schüchternheit ernsthaft die Verwirklichung des in Ihnen steckenden Potenzials.

Auch wenn man bei einem Schüchternheitsquiz dieser Art eher an die Ratgeberseite einer großen Boulevardzeitung denken mag – zu lesen war das Quiz kürzlich auf der Homepage der derzeit schlagzeilenträchtigsten Biotechfirma: Celera Genomics. Die Firma, der es gelungen ist, als erste das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln und allein im letzten Jahr mehrere hundert Patentanträge auf menschliche Gene eingereicht hat. Auf seiner Homepage veröffentlicht das Unternehmen unter der Rubrik „News“ in unregelmäßigen Abständen populärwissenschaftliche Beiträge zur medizinischen Genforschung, darunter auch besagtes Quiz als Teil eines Artikels zur Genetik der Schüchternheit.

Berichtet wird dort vom Zusammenhang des „DRD4“-Gens und des „Angst“-Gens mit der Prädisposition des Menschen zur Schüchternheit. Man erfährt, dass das Genom ungefähr die Hälfte unserer Schüchternheit vorherbestimmt. Wissenschaftler aus den USA und Israel fanden heraus, dass Menschen mit einem zu kurz geratenen DRD4- beziehungsweise „Angst“-Gen neurotischer sind als Menschen mit einer normalen Genlänge. Der Artikel schließt mit einem Zitat des US-amerikanischen Genetikers Dean Hamer, der an den Forschungen maßgeblich beteiligt war: „Auch wenn die Einflüsse von Mutter, Vater oder Lehrer nicht zu unterschätzen sind, es gibt Aspekte der Persönlichkeit, die in den Genen verwurzelt scheinen und das ganze Leben über bestehen bleiben.“

Wenn man die Praxis von Celera Genomics kennt, die das Unternehmen selbst mit der zweideutigen Maxime „We entertain no illusions as to who will profit from genomics research“ beschreibt, dann ist wohl davon auszugehen, dass die entsprechenden Gensequenzen bereits beim US-Patentamt vorliegen. Denn es gibt tatsächlich nicht wenige Menschen, die an ihrer Schüchternheit leiden und sich eine effektive Therapie erhoffen.

Die krankhafte Angst vor anderen Menschen nennt man Sozialphobie. Brigitte Schröder von der Dornierstiftung für Klinische Psychologie in Braunschweig betont den Mosaikcharakter der Krankheit. Eine Vielzahl von Faktoren führen zur Sozialphobie. Letztendlich spielt dann der Zufall eine Rolle, ob und wann es zu den ersten deutlichen Symptomen kommt. Immer wieder wird versucht, die Vererbbarkeit der Sozialphobie nachzuweisen. Die Wissenschaftler stoßen dabei jedoch zwangsläufig auf unüberwindliche Schwierigkeiten, da es keine genetischen „Risikofaktoren“ gibt, die unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Symbolgehalt existieren, und da sich genetische Vererbung von sozialer Vererbung nur schwer abgrenzen lässt.

Auch zwischen Sozialphobie und Schüchternheit lässt sich eine Grenze kaum ziehen. Nach wissenschaftlichen Schätzungen hat jeder zehnte Deutsche Angst vor der Gesellschaft mit den anderen. Einschlägige Ratgeber stehen daher regelmäßig auf den Bestsellerlisten, in den Psycho-Ecken von Bravo bis zu Cosmopolitan gehört das Thema zu den Dauerbrennern. An volkstümlichen Ratschlägen hat es noch nie gemangelt. 1911 riet beispielsweise die Medizinerin Anna Fischer-Dieckelmann in einem populären Frauenratgeber zu „abendlichen Spaziergängen von mindestens einstündiger Dauer“ gegen übertriebene Ängste. Ullsteins „Unerschöpflicher Ratgeber“ von 1934, seinerzeit ein Bestseller unter den Ratgebern für die Familie, empfahl für die Kindererziehung: „Auf keinen Fall darf Angst mit Prügel ausgetrieben werden, dies wäre roh und grausam.“

Heutzutage versucht man vor allem, Angststörungen psychotherapeutisch zu begegnen, etwa mit der so genannten Konfrontationstherapie, mit der auch Brigitte Schröder arbeitet. Für sie spielt der Aspekt des „Lernens“ eine zentrale Rolle. Wir müssen im Laufe unseres Lebens die unterschiedlichsten Ängste bewältigen. Menschen, die den Umgang mit ihren Ängsten nicht erlernen, gehören zur Risikogruppe der SozialphobikerInnen. Hier setzt die Therapie an. Brigitte Schröder konfrontiert die Betroffenen mit der spezifischen, Angst auslösenden Situation und versucht dadurch eine schrittweise Desensibilisierung zu erzielen. „Um den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen“, sollte, so Schröder, nur im Einzelfall auf Medikamente zurückgegriffen werden. Behandelt wird dann mit Tranquilizern, den klassischen Beruhigungsmitteln, und mit Antidepressiva. Mit Medikamenten also, die abhängig machen können und teilweise drastische Nebenwirkungen haben.

Da Schüchternheit und Ängstlichkeit ein Massenphänomen sind, bleibt es ein schwieriges Unterfangen, sie zu pathologisieren – so wie Celera Genomics es tut. Ohnehin ist es ein Irrtum zu meinen, dass Schüchternheit die Potenzen, die in uns stecken, ausschließlich behindert. Der Berliner Psychologe Klaus Jürgen Bruder bezeichnet die Phobie als einen „Vorposten vor der Angst“. Sie ist eine Bewältigungsform der Angst und verteidigt uns, so Bruder, nach vorne. Die Angst schließlich ist Warnsignal vor einer Gefahr. Wer versucht, die Angst abzuschalten, der beraubt sich eines lebenswichtigen Wahrnehmungsinstruments.

Die Angst hat viele Gesichter. Sie brennt auf der Zunge, sie dreht uns den Magen um, sie reißt uns die Augen auf, und sie haut uns die Füße unter dem Boden weg. Die Angst lässt uns allein, macht uns fürchterlich einsam, sie lässt uns unser Dasein bis in die letzte Faser spüren – ein Gefühl, das wir zwar nicht besonders mögen, das jedoch zu uns gehört wie kein anderes. Die Brüder Grimm erzählen in dem Märchen „Von einem der auszog das Fürchten zu lernen“ vom Leiden eines Jünglings, der sich nicht gruseln kann. Es berichtet davon, wie ein dümmlicher Junge in immer wieder neuen Abenteuern das Gefühl der Furcht kennen zu lernen sucht, um gleich einem gelangweilten Kid vor dem Bildschirm immer wieder traurig vor sich hin zu murmeln: „Ach wenn’s mir doch gruseln tät!“

Der Kick, den der Grimm’sche Jüngling sucht, ist ein Moment, der existenziell im wahrsten Sinne des Wortes ist. Ohne Angst fehlt ihm etwas ganz Wesentliches. Ohne das Gefühl der Angst kennt er sich selbst nicht. Dies ist der alte Hut der Existenzphilosophie von Sartre bis Heidegger, und es ist der alte Hut der Psychoanalyse. Die Erfahrung einer schrecklichen Angst, die wir unbeschadet überleben, und der mit ihr empfundenen Einsamkeit führt uns zur Erkenntnis unseres Daseins.

Es ist dieses Gefühl, wenn man aus der Achterbahn aussteigt oder sich vom Bungeeseil abschnallt. Wir alle tragen stolz unser I do the bungee mit uns herum, das macht uns zu dem, was wir sind. Wenn Gentechnik einmal in der Lage sein sollte, unsere biochemische Fähigkeit, Angst zu spüren, zu regulieren, dann hätten wir uns vor uns selbst zu fürchten. Auch wenn es wohl noch eine Weile dauern wird, bis das Wort vom „Geschäft mit der Angst“ eine neue, beängstigende Bedeutung bekommen hat – auf der Homepage von Celera Genomics wird schon einmal ein bisschen damit angefangen.

BJÖRN KRÖGER, 30, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paläontologischen Institut der Universität Hamburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen