: Die Grenzen der Holocaust-Forschung
■ LiteraTour Nord (3): Der Schriftsteller Marcel Beyer liest am Sonntag aus seinem dritten Roman „Spione“
Das neue Buch des 1965 geborenen Autors Marcel Beyer hat es nicht leicht. Vielen Rezensenten scheint der Drive zu fehlen, vielleicht auch die Atmosphäre des Skandalösen, mit der der Vorgänger „Flughunde“ spielte. Doch muss das so sein. Der langwierige und nicht wirklich aussichtsreiche Versuch vierer Jugendlicher, die Liebesgeschichte ihrer Großeltern, er Luftwaffenoffizier, sie Opernsängerin, zu rekonstuieren ist von Zweifeln, von Stockungen durchzogen. Während einer kurzen Pause in ausgedehnten Lesereisen beantwortete uns Beyer einige Fragen.
taz: Kurz vor „Spione“ veröffentlichten Sie zwei unterschiedliche Texte, die sich mit Multiperspektivität beschäftigen. Einer über den Musikproduzenten Harry Mudie, der andere über „Holocaust: Sprechen“. Ist die Komposition von Perspektiven ein Leitthema?
Marcel Beyer: Das findet man innerhalb der Texte, aber auch darüber hinaus. Etwa bezogen auf diese jetzt schon fast historischen Familienidyllen in „Spione“. Ich gehe immer davon aus: Ich schreibe nicht das einzige Buch zu einem Thema. Ich sehe folglich meine Texte immer in einem Ensemble, einer Reihe oder einem Panorama. Ich hätte „Flughunde“ nicht geschrieben – und darin den Holocaust nicht genannt –, wenn es heute nur Veteranenbücher gäbe.
Eine weitere Parallele ist der Topos der Authentizität. Der Einleitungsteil der „Spione“ handelt vom Versuch vierer Kinder, sich – über ein Fotoalbum – der Geschichte ihrer Großeltern zu nähern. Der Protagonist zweifelt ...
... bis er zum Schluss doch ein Foto macht. Das er sich aber nie anguckt, sondern nur auf der Ebene der Erinnerung benutzt. Ein Problem mit Fotos kann sein: Je genauer man hinguckt, desto mehr vervielfältigt sich die Klarheit.
Die eigene Sicht wird auch unklarer ...
Sicher, aber das kann auch gefährlich sein. Man könnte die Konsequenz ziehen: So genau darf man den Holocaust nicht erforschen, sonst verschwindet er einem unter den Fingern. Das ist eine seltsame Sache. Nachdem diese Augenzeugengeschichten und Lebenserinnerungen in den frühen 90-ern vor allem von KZ-Insassen zu bekommen waren, kippte das irgendwann in Richtung einer lustigen KZ-Aufseher-Literatur. In deren Behauptungen „Ich hab das aber so erlebt!“ wird das Authentische gegen die Geschichte ausgespielt.
Ist „Spione“ das Buch zur Wehrmachtsausstellung?
Nein. Als ich schon längst dransaß, kamen diese Debatten. Und ich dachte, das ist ja interessant, wie plötzlich wieder über Fotos diskutiert wird. Was eher parallel lief, waren die ersten Rufe in Deutschland, auch von so genannten Intellektuellen, die Bundeswehr müsse jetzt mal friedensstiftend im Ausland eingreifen. Weil das auch 1936/37 genau die Argumentation gewesen war. Der Sozialismus ist Barbarei, und die dämmen wir ein. Das sind ganz eigentümliche Parallelen, nicht in dem Sinne, dass eins wie das andere wäre, aber doch, dass sich mit knapp sechzig Jahren Verspätung noch mal Ähnliches abspielt. Ich habe sowieso nie begriffen und ich werde das auch nie begreifen, dass man sich für militärisches Eingreifen stark macht unter dem Mantel der Menschlichkeit.
Geht es zu weit, wenn man „Spione“ nach dem ,Akustik-Buch' „Flughunde“ als ,Optik-Buch' liest?
Ich finde gar nicht, dass die Optik so stark ist in den „Spionen“. Was soll ich machen? Hätte dreimal jemand was getastet, wär's gleich das Buch über die Haptik gewesen. Der Blick auf „Flughunde“ bestimmt den Blick auf „Spione“. Es ging mir weniger darum, ein Motiv gewissermaßen auszuwerten, als darum, Motive in Beziehung zueinander zu setzen. Oft ist von Fotos die Rede, von „eindrücklichen Anblicken“ – und im Umfeld dann von der Sprache, den Worten. Das wird fast in eins gesetzt.
Die Oberfläche, die nichts ist, wenn sie nicht interpretiert, nicht im Wortsinne „besprochen“ wird?
Ja. Es ist eine gegenteilige Herangehensweise im Vergleich zu „Flughunde“. Die Frage zielt darauf ab, was sich denn in genauer Betrachtung in der Gegenwart an Vergangenem erkennen lässt.
Das kommt auch in Ihrem Gedichtband „Falsches Futter“ vor.
Da gibt es viele Parallelen. Für mich ist der Gedichtband eben das Buch dazwischen. Das Lyrische Ich geht von der Betrachtung der Historie zum Blick auf Familiengeschichte. Die Aufmerksamkeit verlagert sich. Fragen: T.S.
Marcel Beyer liest am Sonntag um 20 Uhr im Ambiente
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