: Zur Relevanz des Überflüssigen
■ Mehr als Exklusion: Begriffsdebatten im neuen „Mittelweg 36“
Keine Angst, nicht Michel Houellebecq ist der thematische Schwerpunkt der neuen Nummer des Mittelweg 36 gewidmet, sondern der Brauchbarkeit des Begriffs „Überflüssigkeit“ beziehungsweise „Überflüssige“ für die soziologische Analyse von sozialem Ausschluss und Marginalisierung in Jermanía. Die vier Schwerpunktartikel gehen auf ein Arbeitstreffen im Hamburger Institut für Sozialforschung zurück, bei dem primär die in der letzten Nummer der Zeitschrift veröffentlichten Arbeiten des Soziologen Robert Castel und der Stadtforscherin Katherine S. Newman diskutiert wurden. Sieht man davon ab, dass das Aufgreifen einer Debatte aus dem Ausland wieder mit der notorischen Leier von einer verspäteten Thematisierung hierzulande einhergeht, illustriert die Diskussion eine spannende Einführung in die Krümmungen und Biegungen eines politisch umkämpften Terrains von Herrschaftstechnologien.
Dem Modebegriff „Exklusion“ setzte Castel provokativ den Begriff „Überflüssige“ beziehungsweise „unnütze Normale“ (Donzelot) entgegen. Danach legitimiert das sozialwissenschaftliche Gerede von „Exklusion“ lediglich die Klientelisierung von prekären Lebenslagen. Felicitas Hillman verweist in ihrem Beitrag auf die „längst überfällige Diskussion“ in der Migrationsforschung, in deren Forschungskontext der Exklusionsbegriff für maßgeblich ökonomistische Verkürzungen sorgt. Polemischer geht Heinz Steinert – „Die Diagnostik der Überflüssigen“ – vor. Er kritisiert die Inszenierung des Tabubruches, die mit dem Begriff der „Überflüssigen“ verbunden ist, die Verstrickung der Akademie in genau die Diskurse, die sie zu skandalisieren vorgibt.
Armin Nasehis Beitrag beschert der Debatte überraschenderweise einen sehr brauchbaren kritischen Aspekt: mit seiner systemtheoretischen Unterscheidung der Rele-vanzebenen des Exklusionsbegriffs. Dessen Attraktivität für die Sozialpolitik sei die Bedingung für seine Untauglichkeit in der Soziologie: „Exklusion“, sozialpolitisch verwendet, bezeichne eigentlich die Folgen von Exklusion, und damit werde ein strukturelles Problem der „Normal-Gesellschaft“ an ihre Ränder geschoben. Soziologisch betrachtet gehören die sogenannten Ausgeschlossenen aber zur Gesellschaft, sind sie Effekt eines Einschlusses.
Erst vor dem Hintergrund, so Ingrid Oswald in ihrem Beitrag, dass Castel fordistische Vollbeschäftigung voraussetze, könne die Rede von „sozialer Nutzlosigkeit“ sein. Oswald rückt damit den Begriff „Überflüssige“ in die Nähe eines „Mittelschichts-Vorbehalts“ – so der Titel ihrer Überlegungen.
Die Debatte markiert einen Turn weg vom Exklusionsblabla und seinem anerkennungspolitischen Konnotat à la Axel Honneth; indem das Institut sie aber überhaupt führen lässt, macht sie den sozial-darwinistischen Begriff „Überflüssige“ diskutierbar, statt ihn auszugrenzen. Eine Fortsetzung soll im Januar folgen. Vassilis Tsianos
Mittelweg 36, Okt./Nov. 2000, 94 S., 18 Mark
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