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Die Macht der Ideen

Wer wissen will, wie in unserer Gesellschaft Konsens organisiert wird, muss Antonio Gramscis „Gefängnishefte“ lesen. Würdigung eines Klassikers

von ROBERT MISIK

„Wer“, fragte Antonio Gramsci einmal, „wer wäre nicht Marxist?“, um ebenso erstaunlich wie einleuchtend zu antworten: „Alle sind Marxisten, ein wenig, unbewusst.“ Seit Marx jedenfalls lässt sich über Geist, Ideen, das Wesen des Menschen nicht mehr räsonieren, ohne die Bedingungen der materiellen Produktion wenigstens in Rechnung zu stellen.

Auf ähnliche Weise sind wir heute alle „Gramscianer“, ein wenig, unbewusst. Wer redet noch über Politik, bloß die Zwangsapparate und die Insignien der Macht im Auge – ohne jene „hegemoniale“ Dimension zu bedenken, die wesentlicher sein kann als jede „Regierungsverantwortung“? Wo fehlt, wenn über die aktuellen Zustände unserer Gemeinwesen debattiert wird, der Hinweis auf einen „Konsens“, den es zu befestigen gelte – oder der am Erodieren ist (je nach Perspektive); und wer wüsste vom Zeit-Leitartikler bis zum Bild-Kommentator nicht, dass die „Zivilgesellschaft“ das Terrain der Politik ist, auf dem der Kampf um jenen Konsens auszufechten ist? Gramsci, unter den Marxisten der „originärste Denker, den es seit 1917 im Westen gegeben hat“ (Eric J. Hobsbawn), ist längst in den Kanon der politischen Philosophie des eben vergangenen Jahrhunderts eingegangen.

Umso seltsamer ist die Arbeit des Rezensenten. Kann man noch „würdigen“, was bereits zum Klassiker geworden ist? Man kann: Die Gesamtausgabe der „Gefängnishefte“, der Notate Gramscis, zwischen 1926 und 1935 im Kerker verfasst, liegt nun in deutscher Fassung vor. Dafür ist der Hamburger Argument Verlag zu preisen, weil er das schlicht Notwendige getan hat.

Gramscis Gefängnishefte gehören zu jener Art von Lektüre, die man sich erst erarbeiten muss. Dies hängt zuvorderst mit ihrer Entstehungsgeschichte zusammen. Er hat sie als Inhaftierter geschrieben, und seine Haftgeschichte ist keine Erbauungsstory von der Art „Aufrechter-Kämpfer-für-die-Menschheit-der-sich-von-den-Barbaren-nicht-brechen-ließ“. Der Kommunist Gramsci, immer schon von schlechter Gesundheit, wurde von der Haft vernichtet. Schon nach wenigen Monaten im Gefängnis, kaum noch vierzig Jahre alt, stellten sich schwere gesundheitliche Krisen ein. Mit aller Kraft arbeitete er an seinen Studien, in denen die Kämpfe, die da tobten, implizit präsent sind, die aber nie Leitartikel werden, entsprechend der in einem Brief bekundeten Absicht ihres Autors, „dass man etwas für ewig tun müsste“. Die Bedingungen der Haft selbst gaben Anlass zu seit Jahrzehnten ungeklärten (fruchtlosen) Spekulationen, inwiefern das von Gramsci gepflegte Vokabular, das sich deutlich vom Jargon des „dialektischen Materialismus“ absetzte, bloß eine der latenten Kontrolle geschuldete Kriegslist darstellt. Zudem begegnen uns die 2.061 Textstücke in Gestalt einer Materialsammlung, die zwar zum Teil mehrmals überarbeitet ist, also mehr Systematik aufweist als eine unsystematische Folge von Notizen und Exzerpten, die aber offen und unabgeschlossen bleibt. Ihren Autor haben die Kräfte verlassen, noch bevor er 1937 in einer Klinik starb.

Und dennoch ist es ein Werk im strengen Sinn, das dem kritischen Denken einen neuen Kontinent eröffnet – den der Kultur, des Politischen, der Ideen – und gleichsam wie nebenbei alle ökonomistischen, deterministischen Verzerrungen des Marxismus seiner Zeit intellektuell regelrecht vernichtet. Bedenkt man die Zeit und Umstände seiner Ausarbeitung, wundert es, dass Gramsci fast auf der Höhe unserer Zeit argumentiert. Er habe erkannt, schreibt Hobsbawn in seiner bereits zitierten Würdigung, „dass Politik mit mehr als nur Macht verbunden ist ... Er vergaß niemals, dass Gesellschaften mehr sind als Strukturen ökonomischer Herrschaft und politischer Macht, dass sie einen bestimmten Zusammenhalt haben, auch wenn sie durch Klassenkämpfe gespalten sind.“ Anders gesagt: dass sie von Institutionen, Traditionen und Konventionen bestimmt werden, die auf einer anderen Ebene wirksam sind als der bloße staatliche Zwangsapparat. Gramsci erweitert den Staatsbegriff um diese Sphäre (nicht unähnlich, aber weiter gefasst, als dies nach ihm Louis Althusser mit seiner Dichotomie von den „repressiven“ und „ideologischen Staatsapparaten“ tat), indem er darauf besteht, „dass man unter Staat außer dem Regierungsapparat auch den ‚privaten‘ Hegemonieapparat oder die Zivilgesellschaft verstehen muss“. Dies kumuliert in der berühmten Formel aus den Gefängnisheften: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Gramsci war klar, dass „die Linke“ politische Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen habe, dass Herrschaft auf einer „Kombination von Zwang und Konsens“ gründet.

Gramsci war sich der Macht der Ideen bewusst, der Religion, ja der Philosophie, besonders wenn sie in den „Alltagsverstand“ des Volkes eingeht, den er die „Folklore der Philosophie“ nennt („Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von ‚Alltagsverstand‘; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung“). Für ihn sind Ideologien nicht Schein, auch kein raffiniertes Mittel zur Niederhaltung der Unterdrückten, sondern sie haben schlicht „objektive und wirkende Realität“.

Noch und gerade in ihren einfachsten Bildern erweisen sie ihre Wirksamkeit („Gesetz ist Gesetz“, „Jeder ist seines Glückes Schmied“). Dass auch die Unterprivilegierten an diese Erzählungen „glauben“, ist mehr als Folge einer Übertölpelung in herrschaftlicher Absicht, dies zu verändern, im Umkehrschluss nicht schlichte Aufgabe einer „Aufklärung“ über „falsches Bewusstsein“. Im Anschluss an Gramsci zeitgemäß formuliert: Ideologische Hegemonien zu durchbrechen braucht es andere Erzählungen, die umso machtvoller sein werden, je mehr sie selbst in Traditionen, im Alltagsverstand, in Gewohnheiten zu ruhen vermögen – kurz: eine „hegemoniale Strategie“. Diese ist, so Gramsci, „eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist“. Darum auch Gramscis Interesse für die volkstümlichen Sedimente der Theorien, die er die „spontane Philosophie“ nennt, „die ‚jedermann‘ eigen ist“.

Deshalb, und weil die Ideologien „die Massenseite jeder philosophischen Auffassung“ sind, weist Gramsci den Intellektuellen eine herausragende Rolle im Kampf um den Konsens zu. Er führt den Begriff der „organischen Intellektuellen“ ein, die die „organischen Intellektuellen einer Klasse“ (entweder der herrschenden oder subalternen) seien – ein Konzept, das wie die meisten Ideen über die „Rolle der Intellektuellen“ (sei es das des heroisch-intervenierenden oder jenes des in Demut dem Volke dienenden Intellektuellen) leicht angestaubt wirkt. Doch es ist aktuell in den Intellektuellen, die an der Befestigung eines – wie auch immer gearteten – Konsenses oft entscheidender mitwirken als mancher Minister oder Regierungschef. Die Aktualität von Gramscis Konzept erweist sich heutzutage in quasi negativer Weise, bedenkt man, mit welcher Vehemenz auch kritische Intellektuelle oft auf einem scheinbar antipolitischen Expertentum bestehen.

Es ist dies eines jener Selbstmissverständnisse, die selbst von Ideologie – und von Herrschaft – kontaminiert sind. Eine Form dieser Kontaminierung ist für Gramsci auch das Einwandern von Begriffen aus einem ihnen angestammten in einem anderen Bereich. Erst die Einwanderung eines Wissenschaftsbegriffes, der „komplett aus den Naturwissenschaften übernommen“ ist, führt in den Wirtschaftswissenschaften dazu, dass es möglich ist, den Marktautomatismus „als etwas ‚Objektives‘“ darzustellen, „dem Automatismus der Naturtatsachen gleich“. Die Konstruktion von „Gesetzen“ im Bereich des Gesellschaftlichen, in dem allenfalls „Tendenzen“ und „Bedingungen“, innerhalb deren Rahmen aber radikale Offenheit anzutreffen sind, hat auch die von Gramsci so bekämpfte positivistische Verzerrung innerhalb der marxistischen Tradition zur Folge, die dann in einem platten „ökonomischen Determinismus“ gipfelte.

Was ist eine Gesellschaft? Welcher Konsens hält sie zusammen und die bestehende Ordnung aufrecht? Wie wird dieser Konsens organisiert? Welches ist die Bedeutung der Tradition, der Intellektuellen, der Ideen in diesem Feld? Wie wird eine Weltauffassung, eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft dominant? Es sind dies die Fragen, die Gramsci aufwarf, und bei deren Klärung er uns ein ganz beträchtliches Stück weiterbrachte. Es sind dies, wie leicht einzusehen ist, die brennenden Fragen für uns, heute.

Antonio Gramsci: „Gefängnishefte“, 9 Bände, Argument Verlag, Hamburg 2000. Preis je Band 69 DM (Der Registerband erscheint 2001)

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