Ein charmantes „Non“ aus Paris

Frankreichs Spitzenpolitiker betonen gern, wie sie sich um Europa mühen. Reformen aber blockieren sie, wenn sie nicht Frankreichs Interessen dienen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Als der französische Außenminister die Ergebnisse des letzten Vor-Nizza-Treffens zusammenfasste, klang er vorwurfsvoll: 325 Stunden habe man insgesamt in Sachen EU-Reform beraten, doch weiterhin gebe es „schwerwiegende Probleme“. Wer die verursacht hat, dazu wollte sich Hubert Védrine nicht äußern. Einiges spricht dafür, dass es die französischen Verhandlungsführer selbst waren.

Kritik hagelt es von allen Seiten. Kommissionspräsident Romano Prodi gibt dem heute beginnenden Gipfel nur noch eine Erfolgschance von 50 Prozent. Selbst der französische EU-Kommissar Michel Barnier, der in der Brüsseler Verwaltung für die Reform zuständig ist, schüttelt öffentlich den Kopf über die Verhandlungstaktik seiner Landsleute. Im Konklave mit den Außenministern habe er sich gegen die Tendenz der französischen Präsidentschaft gewehrt, „immer nur das Minimum der Reformvorschläge auf dem Tisch zu lassen.“

Diese Taktik irritiert nicht nur die Deutschen. Vierzehn Staaten fanden die Idee gut, im Rat künftig mit „doppelter Mehrheit“ abzustimmen, um so dem demografischen Prinzip der Mitgliedsstaaten größeres Gewicht zu geben. Der Trick dabei: Es wird bei jeder Entscheidung zweimal abgestimmt, das erste Mal gewichtet nach Staaten, das zweite Mal gewichtet nach Bevölkerungsanteilen. Beide Abstimmungen müssen positiv für eine Entscheidung ausgehen, damit diese bindend wird. Aber diese Option verschwand sang- und klanglos aus Vorbereitungspapieren. Da Deutschland seit der Vereinigung deutlich mehr Einwohner zählt als Frankreich, könnte es so ein größeres Gewicht in die Waagschale werfen – inakzeptabel für das gallische Selbstbewusstsein.

Bei den Deutschen wuchs, je näher Nizza rückte, das Verständnis für die Empfindsamkeiten des Nachbarn. War noch vor vier Wochen aus Berliner Verhandlungskreisen zu hören, entweder müsse die „doppelte Mehrheit“ eingeführt werden, oder Deutschland werde mehr Stimmen im Rat verlangen als Frankreich, wiegelt der deutsche Außenminister inzwischen weise ab: Der Geist der Römischen Verträge, die ein Gleichgewicht zwischen den einst verfeindeten Ländern herstellten, wehe noch heute. Schlimm genug für die Franzosen, dass sich durch die Osterweiterung das Koordiatensystem Europas verschiebt: Berlin rückt in Richtung Mitte, Paris an den Rand.

Französische Interessen behinderten den Reformprozess in den letzen Wochen aber noch auf einer anderen Ebene: Der konservative Staatspräsident und sein sozialistischer Regierungschef nutzen die europäische Bühne gern, um sich ins rechte Licht zu rücken. Beide wollen 2002 Präsident der Republik werden. Chirac versucht, sich zu profilieren, indem er publikumswirksam seine Vision eines künftigen Europa entwirft, das der „Grande Nation“ den richtigen Rahmen gibt. Jospin dagegen präsentiert sich seinen potenziellen Wählern als soziales Gewissen Europas: Die Sozialagenda, das Programm gegen Armut und soziale Ausgrenzung, gehört zu seinen Lieblingsprojekten (siehe Seite 5 unten). In den Nachbarländern wurde über diesen Markstein kaum gesprochen, für den innerfranzösischen Wahlkampf aber taugte er wohl.

Die französische Leistung werde natürlich an der institutionellen Reform gemessen, räumte Europaminister Pierre Moscovici am Dienstag bei seinem letzten Auftritt vor dem Parlament ein. Man solle aber doch Fortschritte in Außen- und Sicherheitspolitik, die geplante Agentur für Lebensmittelsicherheit und die neuen Sicherheitsbestimmungen für Öltanker nicht vergessen.

Am Ende, das weiß Moscovici, wird ihm die brav abgearbeitete Liste nichts nützen. Er wird als arrogant und in Wahrheit nicht an europäischen Sorgen interessiert wahrgenommen. Die kleinen Länder haben ihn im Verdacht, in den langen Nächten von Nizza über ihren Standpunkt rücksichtslos hinweggehen zu wollen. Das Parlament sieht in ihm keinen Anwalt seiner Interessen.

Mehr als sechzigmal haben französische Regierungsvertreter in diesem Halbjahr vor dem Plenum ihren Standpunkt dargestellt, hat Moscovici dem Europaparlament vorgerechnet; mehr als jede Präsidentschaft zuvor. Die Parlamentarier bedankten sich höflich. Gleichzeitig machten sie aber klar: Wenn in Nizza ihre Mitbestimmungsrechte nicht erweitert und die zentralen Strukturprobleme nicht gelöst werden, wird das Europaparlament am 12. Dezember die Entscheidungen des Gipfels ablehnen. Das hätte zunächst nur symbolische Bedeutung. Es wäre aber ein Signal für die nationalen Parlamente, die das Reformpaket ratifizieren müssen. Tun sie das nicht, sind Schweden und dann Belgien an der Reihe, eine neue Verhandlungsrunde einzuläuten. Vielleicht gelingt es ihnen besser, in die Rolle des ehrlichen Maklers zu schlüpfen, die vom Ratspräsidium erwartet wird.